"Putin agiert wie ein Mörder"

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Anfang Mai wurde der von Moskau gestützte Präsident in Tschetschenien Achmat Kadyrow ermordet. Umgehend hat Russlands Staatschef Wladimir Putin dessen Sohn Ramsan zum Vizepremier ernannt. Unterdessen wurden Präsidentschaftswahlen für 29. August angesetzt. Ein Gespräch mit der Journalistin anna politkowskaja über die Lage in der Kaukasusrepublik.

Die Furche: Zu Beginn des Jahres meinten Sie, für einen Ausweg aus der tschetschenischen Sackgasse brauche es drei Bedingungen: Abzug der russischen Truppen, Verhandlung mit den kämpfenden Parteien und eine Absetzung des Präsidenten Achmat Kadyrow, weil seine Truppen wie ein Schneeball anwüchsen. Nun ist Kadyrow tot. Wie hat das die Situation verändert?

Anna Politkowskaja: Jeden Tag sterben Leute - unwichtig, ob russische Soldaten, Kämpfer oder Zivilisten. Die Zahl der Entführungen und Ermordungen bleibt gleich hoch. Putin nennt dies Stabilität, aber es ist eine Sackgasse, die nur zu einem weiteren Terroranschlag führen kann. Ohne politische Lösung, ohne Demilitarisierung wird sich nichts zum Besseren ändern. Verhandlungen sind unumgänglich. Es bleibt nur die Frage, wer daran teilnimmt, zu welchem Zeitpunkt und in welcher Weise sie stattfinden und wer Vermittler sein wird. Vor einem Jahr hätte es ein Schema von Verhandlungen geben können, jetzt muss es zweifellos ein anderes sein.

Die Furche: Wie sieht es in Tschetschenien nach Kadyrows Ermordung aus?

Politkowskaja: Zum gegenwärtigen Zeitpunkt kann man nicht sagen, dass sich die Situation wesentlich geändert hat. Jeden Tag wird getötet und entführt. Die Welt wartet, dass sich dort etwas ändert, aber es wird alles gleich bleiben. Ohne Druck von außen wird sich nichts ändern. Alles bleibt wie in einem Sumpf aus Blut. Etwa der Fall, mit dem ich mich derzeit beschäftige: Leute mit verhülltem Gesicht haben einen Mann schwer gefoltert, sodass er am ganzen Körper verstümmelt ist. Fragt man den Mann, wer ihn gefoltert hat, sagt er, er wisse es nicht. In diesem Fall wissen wir, dass es Russen waren, keine Kadyrow-Leute. Diese haben ihn glücklicherweise sogar befreit, weil ihn einer aus der Truppe vom Studium her kannte. Bei der Folter hat ein Russe außerdem die zwei Kinder des Mannes aufgehoben und mit den Köpfen aneinander geschlagen. Ich arbeite schon lange in Tschetschenien und sehe, dass der Unterschied zu früher in dem Detail liegt, dass gemeinsam mit einem Entführten auch die Wertgegenstände, Kleidung usw. geraubt werden. Mir scheint, die Militärs machen all das, damit der Krieg nicht aufhört.

Die Furche: Können Sie die Kadyrow-Truppe genauer beschreiben?

Politkowskaja: Formal sind sie die Sicherheitsgarde Achmat Kadyrows, die dessen jüngster Sohn Ramsan leitete. Sie existierte nur dank der persönlichen Garantie Kadyrows, der seinerseits die Garantie von Putin hatte. Nach Achmats Tod gibt es nun formal keinen Sicherheitsdienst mehr. Ramsan ist nicht mehr Leiter dieser Truppe, er wurde zum ersten Vizepremier ernannt und somit faktisch Leiter der Republik. Die nun illegale Truppe, die auch kein Recht hat, Waffen zu tragen, agiert aber unvermindert weiter. Einfach gesagt, stehen die einen illegalen Banden den anderen illegalen gegenüber, z. B. Kadyrow gegen Bassajew oder Maschadow. Ich denke, dass sie allesamt an einer Ordnung in der Republik nicht interessiert sind. Aber warum lässt sich Putin darauf ein?

Die Furche: Warum?

Politkowskaja: Weil er auf die so genannte Tschetschenisierung des Konfliktes baut. Er will die Tschetschenen zusammenstoßen lassen, wodurch weniger Bundessoldaten sterben. Das senkt den Unwillen in Russland selbst, wo es niemanden interessiert, wenn ein Tschetschene stirbt. Das ist die brutale Wahrheit. Ich verstehe Putins Handlungen nicht. Er agiert wie ein Mörder.

Die Furche: Ist die Machtstruktur in Tschetschenien ein Resultat der Machtvertikale Putins?

Politkowskaja: Wie in Russland selbst, wo hinter Putin keine ernst zu nehmende Figur in der eigenen Umgebung und keine Opposition mehr übrig gelassen wurde, so hatte man in Tschetschenien nur Achmat. Nach ihm blieb nur dessen Sohn Ramsan. Keine Opposition außer die in den Bergen.

Die Furche: Warum wurde bisher niemand für Verbrechen in Tschetschenien verurteilt?

Politkowskaja: Ich weiß nicht warum. Ich weiß nur, dass so die staatliche Politik aussieht: Alle, die ein Militärabzeichen tragen und in Tschetschenien kämpfen, will man aus der Verantwortung befreien. Die Folgen für unser Land, in dem der rechtliche Nihilismus auch so schon ziemlich groß ist, sind katastrophal.

Die Furche: Die Gerüchte, Russlands Geheimdienst sei bei den Häuserexplosionen 1999 in Moskau und der Geiselnahme im Moskauer Theater Nordost involviert gewesen, verstummen nicht. Nun kursieren ebensolche bezüglich der Ermordung Kadyrows.

Politkowskaja: Wir können nur von Versionen reden. Die Geheimdienste in Tschetschenien sind eine sehr heterogene Masse: Es gibt den GRU (Militärgeheimdienst), den FSB (Bundesgeheimdienst) und die ziemlich brutalen Spezialeinheiten des Innenministeriums mit ihren häufigen Sabotageakten. Wir haben die Abteilung des Sulim Jamadajew oder die des Magomed Kakijev - hinter beiden standen unterschiedliche Geheimdienste. Ich kann nur annehmen, dass Jamadajew genug Gründe hatte, Achmat Kadyrow umzubringen. Einige Wochen vor Kadyrows Ermordung haben Jamadajews Leute einige Male versucht, Ramsan zu töten. Ich denke, dass Jamadajew mehr Anteil an der Ermordung hat als der FSB. Involvierung der Geheimdienste? Ich denke, es ist gleich wie bei den Häuserexplosionen in Moskau, dass etwas mit den Händen von Tschetschenen ausgeführt wird.

Die Furche: Kann Russland das Tschetschenien-Problem selbstständig lösen?

Politkowskaja: Sicher nicht. Früher oder später wird es internationale Hilfe brauchen.

Das Gespräch führte Eduard Steiner.

Unerschrockene Chronistin des Grauens

Anna Politkowskaja ist eine der angesehensten russischen Journalistinnen und berichtet den ganzen zweiten Tschetschenien-Krieg über in zahlreichen Reportagen aus dem Kriegsgebiet. Politkowskaja wurde 1959 in der Sowjetunion geboren. Nach dem Journalistikstudium in Moskau arbeitete sie bei verschiedenen Zeitungen, ehe sie 1999 zur unabhängigen Zeitung "Nowaja Gazeta" wechselte. Durch ihre unerschrockene Dokumentation der Kriegsverbrechen in Tschetschenien wurde sie immer wieder auch zur Zielscheibe der russischen Militärs und Regierung. In Tschetschenien selbst wurde sie verhaftet, zeitweise lebte sie mit Todesdrohungen. Im Vorjahr erschien ihr zweites Buch über "Tschetschenien. Die Wahrheit über den Krieg". Frau Politkowskaja wurde mit zahlreichen Preisen für ihr Tätigkeit ausgezeichnet.

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