Putins Kampf gegen die Zivilgesellschaft

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Über das Gesetz für "ausländische Agenten" kontrolliert der Kreml seit 2012 russische NGOs -vom Umfrage-Institut bis zur Kinderhilfs-Organisation.

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Über das Gesetz für "ausländische Agenten" kontrolliert der Kreml seit 2012 russische NGOs -vom Umfrage-Institut bis zur Kinderhilfs-Organisation.

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Sie wurde auf der Straße gefunden, allein in einem Kinderwagen. Ohne Eltern, ohne Dokumente und auch ohne Namen. "Ryschenkaja" wurde die Einjährige später von einer Betreuerin genannt. "Die Rothaarige".

"Ryschenkaja" ist nur ein Kind von vielen, das die "Frauen Eurasiens" unter ihre Fittiche genommen haben. "Wir sammeln Hilfe für jene Kinder, die in Kinderheimen, in zerrütteten Familien oder einfach auf der Straße leben", beschreibt sich die Organisation auf ihrer Homepage. Doch was für viele Kinder in Tscheljabinsk, einer Millionenstadt in Südrussland, oft die letzte Hoffnung ist, ist dem Kreml offensichtlich ein Dorn im Auge. Vor einem Jahr wurde die Hilfsorganisation auf die Liste der "ausländischen Agenten" gesetzt. "Die Beamten haben jetzt Angst, mit uns zu kommunizieren", so die Leiterin Tatjana Schtschura auf Anfrage. "Wir waren gezwungen, unser Adoptionsprogramm einzustellen."

Die Zivilgesellschaft hat in Russland ohnehin keinen leichten Stand. Doch vor fünf Jahren begann für viele Nichtregierungsorganisationen (NGOs) eine neue Zeitrechnung. Im Juli 2012 wurde das Gesetz "Über ausländische Agenten" beschlossen. Wer Gelder aus dem Ausland bezieht und politisch aktiv ist, wird beim Justizministerium als "ausländischer Agent" registriert. Was als "politisch aktiv" zu verstehen ist, ist dabei weit gefasst: Jede Tätigkeit, die darauf abzielt, die "Entscheidungsfindung von staatlichen Organen oder die Staatspolitik" zu beeinflussen, so der offizielle Gesetzestext. Im Fall der Kinderhilfe zählen dazu etwa konkret "Seminare" und "runde Tische" sowie die "Herausgabe von Informationsmaterial."

Diffamierung als Staatsfeinde

Die Liste der 89 Organisationen liest sich wie das "Who is Who" der russischen Zivilgesellschaft: von der Gesellschaft Memorial, die Sowjet-Repressionen aufarbeitet, über das Umfrage-Institut Lewada-Zentrum bis hin zum Sacharow-Zentrum, benannt nach dem Friedensnobelpreisträger Andrej Sacharow. Fortan ist ihre Arbeit zwar nicht verboten, aber maßgeblich erschwert: So müssen sich die NGOs öffentlich als "ausländische Agenten" kennzeichnen und regelmäßige Berichte abgeben. Wer gegen die Regeln verstößt, riskiert hohe Geldstrafen. Zudem werden viele Organisationen in den kremlnahen Medien als Staatsfeinde diffamiert und von den Behörden schikaniert. Um das zu verhindern, versuchen einige NGOs, ohne ausländische Unterstützung über die Runden zu kommen.

Dass das Gesetz 2012 verabschiedet wurde, ist kein Zufall. Im Winter 2011/12 gingen tausende Russen gegen Wahlfälschungen und die Wiederwahl Wladimir Putins auf die Straße. "Einerseits bedingt durch die aktive Rolle, die NGOs bei den Farbrevolutionen in der Ukraine und in Georgien gespielt haben, sowie andererseits durch die Massenproteste in der russischen Hauptstadt, hat die russische Führung begonnen, unabhängige Gruppen zu unterdrücken und zu diskreditieren", schreibt Human Rights Watch in einem aktuellen Bericht. Das "Agenten-Gesetz" gehörte zu den ersten Maßnahmen in der dritten Amtszeit Putins.

Bei Kritik verweist der Kreml auf ein ähnliches Gesetz, das es in den USA schon seit 1938 gibt - den sogenannten "Foreign Agents Registration Act." Doch während sich das Gesetz damals gegen Propaganda aus dem Dritten Reich richtete, wird das Gesetz in Russland gezielt gegen unliebsame Bürgerrechtler eingesetzt. "Das Agenten-Gesetz wurde konzipiert, um kritische NGOs zu gängeln, zu stigmatisieren und letztlich zum Schweigen zu bringen", so Sergej Nikitin, Direktor von Amnesty International in Russland.

Wie gegen Golos (zu deutsch: "Stimme"), eine Organisation, die Beobachter für Wahlen ausbildet. So waren es gerade diese Wahlbeobachter, die die Fälschungen beim Wahlgang 2011 dokumentiert und die Protestwelle erst losgetreten haben. "Golos" wurde als eine der ersten NGOs als "ausländischer Agent" registriert und mit Strafen in der Höhe von 200 Millionen Rubeln (30 Millionen Euro) belegt. Das war das Ende der NGO, der Hauptverband wird gerade abgewickelt. Zwar konnte sich "Golos" als informelle Bewegung neu gründen, aber nur mit dem Bruchteil der ursprünglichen Gelder. Statt über USAID oder EU-Gelder wird "Golos" nur noch über russische Spenden und einen Fonds des russischen Präsidenten finanziert. "Doch kurz vor den Dumawahlen (im September 2016, Anm.) wurde unsere Finanzierung einfach eingestellt", erzählt der Vorsitzende Grigorij Melkonjanz.

So werden kritische Bürgerrechtsbewegungen wie "Golos" schikaniert, stigmatisiert, international isoliert und finanziell an der kurzen Leine gehalten. "In Russland ist es nun die offizielle Ideologie, dass der Staat nicht den Bürgern, sondern der Bürger dem Staat dienen soll", sagt Nikita Petrow von der Menschenrechtsorganisation Memorial. "Dieses Gesetz ist das Ende der Zivilgesellschaft in Russland."

Unterschriften und Prozesse

Doch die Zivilgesellschaft hat noch ein zweites Gesicht. Olga Arnoldowa steht im obersten Stock eines Plattenbaus. Die letzten Sonnenstrahlen kriechen gerade über die Baumwipfel des Waldes, der sich vor ihr wie ein grüner, dichter Teppich erstreckt. Fast könnte man vergessen, dass es hier nur knapp 40 Kilometer bis zum Roten Platz in Moskau sind. "Dieser Wald ist der größte Schatz von Troizk!" sagt die Juristin. "Und ein Wunder der Natur!"

Damit könnte es aber bald vorbei sein. Quer durch den Wald soll eine Schneise für eine sechsspurige Autobahn geschlagen werden, um das Moskauer Umland mit der 12-Millionen-Metropole zu verbinden. Die Bewohner von Troizk haben sich mit Aktivisten aus den Nachbarregionen zusammengeschlossen, um die Wälder im Süden Moskaus zu bewahren. Arnoldowa hat tausende Unterschriften gegen die Pläne gesammelt, Bürgerversammlungen organisiert und ist auch schon vor Gericht gezogen.

Grassroots in Moskau

Während kritische NGOs unterdrückt werden, schießen in Russland immer wieder neue Graswurzelbewegungen aus dem Boden. Das entlädt sich freilich nicht immer direkt im Widerstand gegen den Präsidenten Wladimir Putin, wie bei Anti-Korruptions-Protesten des Oppositionellen Alexej Nawalny. Sondern in ökologischen, sozialen oder wirtschaftlichen Forderungen, wie zuletzt in Moskau, als tausende gegen den Abriss alter Wohnhäuser auf die Straße gingen. Oder vor einem Jahr, als Lkw-Fahrer landesweit gegen erhöhte Mautgebühren protestierten. Da Russland in einer Wirtschaftskrise steckt, werden Proteste dieser Art weiter zunehmen, glauben Experten. "Der Lebensstandard verringert sich, und die Unzufriedenheit wächst", sagt Meinungsforscher Lew Gudkow.

Graswurzelbewegungen können die Arbeit von NGOs freilich nicht ersetzen, aber sie sind eine wichtige Etappe zu einer Bürgergesellschaft, ist die Politologin Jekaterina Schulmann überzeugt: Weil der russische Staat sich künftig verstärkt über die Steuern der Bürger finanzieren müsse anstatt über Rohstoffeinnahmen, würden die Bürger auch mehr Bewusstsein für den Staat entwickeln. Und zivilen Ungehorsam - wie das Recht auf Protest - stärker einfordern. "Wenn die Leute das Gefühl haben, dass ihnen der Staat nichts mehr schenkt, sondern ihnen etwas wegnimmt, wird sich ein bürgerliches Bewusstsein entwickeln", so Schulmann.

Im Wald von Troizk ist das allerdings vorerst ein geringer Trost. Bisher haben die Aktivisten rund um Olga Arnoldowa auf Granit gebissen. Schon bald sollen die ersten 40 Hektar des Waldes gerodet werden. "Wir haben mehr als 1000 Vorschläge und Anmerkungen der Bürger von Troizk gegen diese Entscheidung gesammelt", sagt Olga. Aber ohne Erfolg. Sie sieht müde aus. "Noch gelingt es uns, Widerstand zu leisten", sagt sie. "Aber dass es mit dem Wald endgültig zu Ende geht, ist wohl nur noch eine Frage der Zeit."

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