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Randbemerkungen zur woche

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DIE BUCHSTABEN ASVG SIND KEINE ABKÜRZUNG FÜR „AKT/ENGESELLSCHAFT STAATLICHER VERSORGUNGS-GEN/ESSER“; die vier Buchstaben bedeuten: „Allgemeines Sozialversicherungsgesetz“. Bis man allgemein versichert sein kann, versorgt zu sein, ohne staatliche Sorgen mitzugenic-ßen, wird es einige Zeit dauern. Es gibt vorderhand auch keine Versicherung gegen lene allgemeine Unruhe in den Kreisen der Acrzteschaft im Zusammenhange mit dem neuen Sozialversicheruugsgcsctz. Zu diesem haben die Aerzte etwa zur gleichen Zeit, da das Sozialministerium die Presse zu einer Konferenz einlud, ausführlich Stellung genommen. Drei Punkte harren einet Lösung. Erstens: daß jedem niedergelassenen Arzte, der praxisberechtigt ist und die vertraglichen Bedingungen erfüllt, die Möglichkeit gegeben wird, Sozialversicherte zu betreuen. Die Zahl der Aerzte, die jetzt noch ohne Kassenvertrag sind, beträgt 20 Prozent. Zweitens: Einkommengrenze für die Inanspruchnahme ärztlicher Hilfe zum begünstigten Tarif. (Man verweist darauf, daß die Nationalräte beispielsweise, die sich selbst materiell Besssr-stellung bewilligten, in die Pflichtversicherung aufgenommen sind, und daß anderseits für erhöhte Sozialleistungen über kurz einfach keine Mittel da sein werden.) Drittens: gesetzlicher Schutz der Aerzte-schaft vor dem ungleichen Wettbewerb der Kassen-ambulatorien. (Hier wird darauf verwiesen, daß etwa Westdeutschland unter Berücksichtigung der Bevölkerungszahl hinsichtlich der Zahl der Ambulatorien zu Oesterreich wie 1:56 steht.) In unseren Bundesländern, beispielsweise Oberösterreich, ist die Zahnbehandlung zu 75 Prozent von den Ambulatorien an sich gezogen worden. Bereits das Sozial-versicherungs-Ueberleitungsgesetz 1947 war für die Aerzte eine Last. Sie sehen sich nunmehr vom Dr. med. Bürokratius, vom totalitären Sozialmedizinismus bedroht. Die Aerzteschaft Oesterreichs, vom Präsidenten der Kammer an bis zum kleinen Landatzt kam im Wiener Musikvercinssaal zusammen. Die Musik, die dort erklang, dürfte weiter als bis zum Ballhausplatz hallen, wohin man sich im Protestmarsch begab. Wenn man kein Gehör der Musik schenken sollte, die einstweilen noch mit gestopften Trompeten gemacht wird, läßt der Warnungsstreik der Spitalsärzte ein Finale erwarten, das den Fieber-freien einen Schauer über den Rücken jagt.

IN DER SPRACHLICH UND KONFESSIONELL SO MUSTERHAFT AUSGEGLICHENEN SCHWEIZ gibt es ein religiöses Problem, das einer neuen, gerechten LStMiig harrt. Die schweizerische Bundesverfassung, die aus dem Jahre 1S74 stammt, als die Schweiz mitten im Kulturkampf stand, enthält bis heute zwei Artikel, die von den Schweizer Katholiken als diskritniniereud angesehen werden. Diese beiden Verfassungsbestimmungen haben folgenden Wortlaut: „Artikel 51. Der Orden der Jesuiten und die ihm affiliicrten Gesellschaften dürfen in keinem Teile der Schweiz Aufnahme finden und es ist ihren Gliedern jede Wirksamkeit in Kirche und Schule untersagt. Dieses Verbot kann durch Bundesbeschluß auch auf andere geistliche Orden ausgedehnt werden, deren Wirksamkeit staatsgefährlich ist oder den Frieden der Konfessionen stört.“ — „Artikel 52. Die Errichtung neuer und die Wiederherstellung aufgehobener Klöster und religiöser Orden ist unzulässig.“ — In der Praxis hat sich nun seit Jahren große Zurückhaltung und Toleranz in der Anwendung der beiden Artikel herausgebildet. Es sind neue Klöster entstanden (wobei man die Bezeichnung Kloster vermied und „Haus“ oder „Institution“ an ihre Stelle setzte), es wurde zum Beispiel die Helvetische Provinz des Dominikanerordens vor kurzem kanonisch neu errichtet, aber auch Jesuiten als Einzelpersonen konnten auf “erschiedenen Gebieten, namentlich als Akademiker-Seelsorger und in der Presse, unbehindert tätig sein. Von Zeit zu Zeit gab es aber immer wieder Beschwerden und Schwierigkeiten. So konnte vor einigen Jahren infolge einer Auslegungsweise des Artikels 51 eine Silvesteransprache im Radio, die von einem Jesuiten gehalten werden sollte, verhindert werden, was begreiflicherweise in katholischen Kreisen viel böses Blut machte. Auch Debatten im Züricher Kantonsrat (1953) riefen Mißstimmung hervor. Zur Abschaffung der Artikel bedarf es einer Volksabstimmung, bei der sowohl die Mehrheit der Kautone als auch die Mehrheit der stimtnenden Bürger maßgebend ist. Die katholisch-konservative Fraktion des Ständerates (der Vertretung der Kantone) hatte letzten November einen parlamentarischen Vorstoß unternommen, auf Grund dessen nun Beratungen stattfinden werden, ob eine solche Verfassungsänderung dem Schweizer Volk zur Abstimmung vorgelegt werden soll. Der schweizerische Protestantismus hat sich in der Geschichte weder für ein Zustandekommen dieser Verbote eingesetzt, noch dafür, daß sie beibehalten werden-, der Kulturkampf in der Schweiz spielte sich immer auf dem Boden der politischen Parteien ab. Vor kurzem hat die evangelische Zeitschrift „Reformatio“ der Jesuitenfrage eine Sondernummer gewidmet, in der sie prinzipiell f üt, die Aufhebung der die Katholiken diskriminierenden Ausnahmebestimmungen der Verfassung eingetreten ist. Anläßlich einer Schulungswoche hat sich auch der schweizerische „Zwinglibund“ mit der Frage der Aufhebung der konfessionellen Artikel der Verfassung beschäftigt. Die Teilnehmer vertraten fast einhellig die Auffassung, daß sich das Jesuiten- und das Klosterverbot nicht mit dem gesamtschweizerischen Prinzip der Glaubensfreiheit vereinbaren lasse. Wer sich vor der Aufhebung des Jesuitenverbotes fürchte, verrate damit, daß er kein großes Vertrauen in seinen eigenen Glauben habe.

ZU VIELE DER TRAURIGEN JAHRESTAGE gibt es zu begehen, wenn man die Freiheitsverluste der europäischen Völker seit zwanzig Jahren Revue passieren läßt. Am 15. Juni werden es IS Jahre, seit Litauen, am 17., seit auch Lettland und Estland von der Roten Armee „im Frieden“ besetzt worden sind: Prokommunistische Regierungen, über Nacht fabriziert, führten Einheitslistenwahlen in ..Volksparlamente“ durch, die wenige Wochen darauf „einstimmige Beschlüsse“ faßten, ihre Länder zu Sowjetrepubliken zu erklären und um die „Aufnahme in die UdSSR, zu ersuchen“. Hitlers Armee, die ein Jahr später die baltischen Länder bei Beginn des Krieges gegen die UdSSR, besetzte und drei Jahre lang hielt, stellte nicht einmal formal deren staatliche Unabhängigkeit wieder her, sondern verwaltete sie als „Ostland“: und mit der Rückkehr der Sowjets, 1944, die damals mit dem Westen verbündet waren, wurde die Sowjetisicrung Litauens, Lettlands und Estlands wiederaufgenommen, trotz dem offenen Nein, das die Westalliierten diesem Gewaltakt von 1940 entgegenzusetzen nicht aufgehört hatten. Dieses westliche Nein, von dem auch während der anglo-amerikanischen Flitterwochen mit Moskau weder in Washington noch in London abgegangen worden ist, leuchtet als dauernde Fackel über allen Hoffnungen der baltischen Emigration: sind die baltischen Länder im staatsrechtlichen Sinne heute als Bestandteile der Sowjetunion auch schlechter daran als die Satellitenstaaten des Ostblocks, die ihre juridische Selbständigkeit bewahrt haben, so ist dafür anderseits die Nichtanerkennung der baltischen Annexion durch den Westen, das Weiterbestehen diplomatischer Vertretungen der freien Balten, ein Gegengewicht von hoher Bedeutung. Gesandtschaften der drei Staaten im Sinne des alten Regimes gibt es in Washington und London, in Ottawa, in Rio de Janeiro und in Montevideo — Litauen und Lettland sind zudem auch noch beim Vatikan vertreten. Die alten diplomatischen Korps dieser Länder repräsentieren den alten Staatsgedanken: in Rom wirkt der ehemalige Außenminister Litauens, Lözoraitis, als „Chef des litauischen diplomatischen Dienstes“, in London die Gesandten 2arins für Lettland ur. . Thorma für Estland in gleicher Funktion. Die in der freien Welt lebenden Vertreter der Parteien der drei Staaten bilden nationale Komitees: mit Intensität wird innerhalb der Emigration kulturelles Leben in der Muttersprache wach erhalten — in Bern betreut Dr. Gerutis, Litauens ehemaliger Völkerbunddelegierter, ein litauisches bibliographisches Archiv ,—: das wirkliche Leben des Volkes, indes sich die Sowjets gerade im gegenwärtigen Augenblick, entsprechend ihrer geänderten Taktik, um den Wiederaufbau der Nikolaikirche in Reval, der Petrikirche, des Rathauses und des Schwarzhäupterhauses in Riga, um „organische Weiterentwicklung des Ererbten in den baltischen Staaten“ im allgemeinen bemühen .. . Die baltischen Emigranten wissen, wie es um die Weiterentwicklung des Ererbten unter der bolschewistischen Knute bestellt ist: das freie Litauen begeht den 15. Juni nicht allein wegen des Einmarsches der Russen im Jahre 1940 als Tag der nationalen Trauer, sondern vor allem wegen der ein Jahr darauf erfolgten Massendeportationen seiner im Lande gebliebenen Intelligenz nach den Zwangsarbeitslagern Sibiriens und des hohen Nordens Rußlands — deportiert wurden rund 35.000 „Volksfeinde“ —, wozu nicht nur Offiziere und höliere Staatsbeamte des alten Regimes, sondern alle „westlich verseuchten“ Menschen, wie zum Beispiel Briefmarkensammler, Esperantisten, Handelsvertreter usw., gezählt wurden.

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