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Reform, nicht nur Sanierung!

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Aus einem fortschrittlichen Staatsgefüge sind Institutionen, wie bei uns die Krankenkassen, nicht mehr wegzudenken. Von allen Seiten, auch von den Aerzten, wird die Notwendigkeit eines ausreichenden Schutzes der sozial schutzbedürftigen Kreise im Krankheitsfall immer unterstrichen. Es muß nur die beste Organisationsform gefunden werden, die dem Staatsgefüge, dem Zeitgeist und der Wirtschaftslage entspricht. Unser Krankenkassenwesen, dessen Wurzel in das vorige Jahrhundert reicht, wird daher immer wieder reformbedürftig sein.

Durch das neue Sozialversicherungsgesetz hat praktisch die ganze Bevölkerung die Möglichkeit, in den großen Krankenve,rs\cherungsinstitUM8BlrHuk0m'%!useIrn! M$%lfif)l apparat ist damit ein noch größerer' Machtfaktor des öffentlichen Lebens geworden. — Auch die Mentalität der Bevölkerung hat sich geändert. Jeder strebt nach möglichst völliger Befreiung von Krankheit und Schmerz und nach dem sorgenfreien, körperlichen Wohlbefinden. Der Staatsbürger vermeint ein Recht auf die Gewährung dieses Wohlbefindens zu haben, weil er doch durch Einzahlung vieler Schillinge sich dieses Rechtes versichert hatl Auch die Wirtschaftslage hat sich geändert. Nicht nur sozial schutzbedürftige Kreise, sondern auch jene, die es glücklicherweise nicht sind, nehmen die allgemeine Krankenversicherung reichlich in Anspruch, auch sie wollen ihre Krankenkassenbeiträge möglichst .wieder rückerstattet sehen.

Zwischen dem „Versicherten“ und seinem „Apparat“ stehen nun etwa 7000 Vertragsärzte der verschiedenen Krankenkassen und sollen es beiden Teilen recht machen! Aus der Erfahrung mit der Materie können die Aerzte wohl viel zur Diskussion beisteuern, doch zeigt es sich leider, daß man auf gute Ratschläge nicht immer gut zu sprechen ist. So sind zwar viele Krankenkassenfunktionäre im Nationalrat und haben dort am neuen Allgemeinen Sozialversicherungsgesetz entscheidend mitgewirkt. Als Unikum unter den Ländern Europas hat Oesterreich keinen Arzt im Nationalrat (in der Deutschen Bundesrepublik sind derzeit sechs Aerzte Abgeordnete), darum war ja auch eine Ringstraßendemonstration der Aerzte vor dem Beschluß des Nationalrates über das Allgemeine Sozialversicherungsgesetz (ASVG) notwendig. Auch bei der kürzlich abgeführten Krankenkassenenquete legte man wenig Wert auf die Teilnahme der Aerzte. Von etwa 150 „Fachexperten“ waren nur drei Aerzte und der juridische Berater der Aerztekammer geladen!

In Deutschland, wo ebenfalls seit mehr als einem Jahr die Reform der Krankenversicherung diskutiert wird, hat man einen anderen Weg gewählt. Ein kleiner Kreis von wissenschaftlich anerkannten Soziologen, Krankenkassenfunktionären, Sozialpolitikern und Aerzten hat sich eine volle Woche freiwillig in eine Enklave zurückgezogen und hat in einem ernsten und sachlichen Gespräch das Ffir und Wider der Reform und die mögliche Wege dazu, abschlössen vom lärm des Alltags, diskutiert. Das wäre doch auch ein Weg für uns in Oesterreich. Die.sc schwierige Materie in rund sieben Stunden bei einer Gesamtteilnehme-zahl von

150 Experten zu besprechen, konnte kein befriedigendes Ergebnis erzielen. Die meisten Redner gaben auch nur allgemeine Erklärungen ab, nur ganz wenige gingen tatsächlich auf die schwierigen Einzelprobleme ein. Die Vorschläge der Krankenkassen selbst wurden erst während des Hauptreferates ausgeteilt, und es war damit schon unmöglich, das vierseitige Elaborat zu studieren oder dazu konkret Stellung zu nehmen. So kam es zur auffallenden Lustlosig-keit oder vielleicht abgesprochenen Zurückhaltung in der Debatte, wenn die vertretenen Experten überhaupt daran gedacht haben, eine sachliche Debatte der Kernprobleme einzuleiten. Die Enquete zeigte ,jedenfalls,„„nach, Meinung der dort anwesenden Aerzte*..iidaß.

durch die ungenügende Vorbereitung einer so wichtigen Frage oft mehr verdorben als genützt werden kann.

Mit Besorgnis sehen die Aerzte die von mancher Seite angestrebte Entwicklung zur totalen Zwangsversicherung aller Bevölkerungskreise, den Hang zum staatlichen Gesundheitsdienst, sei es nach englischem oder nach russischem Muster. Beide Formen sind für die österreichische Mentalität der Bevölkerung, aber auch für die Staatsfinanzen untragbar! Schon das jetzige, sehr großzügige System zeigt, daß der Versicherte nicht so sehr am „Gesundsein“, sondern vielmehr am „Kranksein“ interessiert wird. Daher die ungeheuren Ausgaben für Medikamente, Kuraufenthalte, Krankengelder und Krankenhausaufenthalte. Hier sind viele Anreize gegeben, die Rückerstattung der eingezahlten Beiträge zu erreichen. Im drohenden verstaatlichten Gesundheitsdienst sind die Leistungen für jedermann kostenlos, sie werden aus den allgemeinen Steuergeldern gedeckt. Auch der sonst so rücksichtsvolle und beherrschte Engländer wird dadurch verleitet, immer mehr aus diesem Eintopf der Steuermittel herauszuschöpfen, was ihm gerade erreichbar ist — daher die jährlich wachsenden, schon jetzt horrenden Kosten dieses Systems. — In Rußland sorgt ein straffer Organisationsapparat, der viele bei uns nicht übliche Sanktionen verhängen kann und die Kontrolle über die Patienten so führt, daß von den verhandenen Mitteln möglichst jeder gleichviel bekommt. Unsere Reform des Krankenkassensystems muß einen goldenen Mittelweg zwischen der staatlichen Kontrollherrschaft und der Erziehung des Staatsbürgers zur Eigenverantwortlichkeit gehen. Das persönliche Verantwortungsgefühl des einzelnen für sein leibliches Wohl, für seine Vorsorge für Krankheit und Alter muß wieder geweckt werden. Die Aerzte sehen das derzeitige finanzielle Versagen der Krankenkassen darin begründet, daß man verabsäumt hat, den Staatsbürger auch in Belangen seiner Gesundheit Wege zu zeigen, die weitgehend seine eigene Mithilfe brauchen, damit sein Interesse am „Gesundsein“ größer wird und er nicht durch die Vorteile des „Krankseins“ einer bedenklichen Neurotisierung verfällt. Aus dem Vorgesagten ergeben sich kurz folgende wichtige Vorschläge:

1. Eine maßvolle Selbstbeteiligung an den Ausgaben für seine eigene Gesunderhaltung muß dem Versicherten zugemutet werden: insbesondere- bei Kur- und Erholungsaufenthalten und beim “Bezeig der Medikamente“ Hier* müßte“hä- türlich eine soziale Grenze für Kleinrentner, Dauer- und Schwerstkranke gezogen werden.'

2. Außerordentlich bewährt hat sich das System der Rückerstattung von Beiträgen zu den privaten Krankenversicherungen bei verminderter Inanspruchnahme der Krankenkasse. Gerade für jüngere Personen ein Ansporn, am Gesundsein interessiert zu sein.

3. Begreiflicherweise sind die Rentner — infolge ihres Alters oder ihrer Invalidität — eine schwere Belastung für die Krankenkassen. Bei der zunehmenden Vergreisung unserer Bevölkerung muß diese finanzielle Lücke im Beitragsaufkommen für diese wirtschaftlich schwache Bevölkerungsschichte geschlossen werden.

4. Anderseits ist es den wirtschaftlich gut gestellten, unselbständig Berufstätigen zuzumuten, von einem bestimmten, dem Familienstand angepaßten Einkommen an, für eine private Krankenversicherung zu sorgen. Ein alleinstehender Arbeitnehmer mit einem Netto-monatsverdienst von etwa 4000 S braucht das Risiko einer Erkrankung wohl nicht auf die Allgemeinheit abzuschieben. Er sollte lediglich verhalten werden, den Nachweis zu erbringen, daß er bei einer privaten Versicherung krankenversichert ist.

5. In der Krankenversicherung sollte man wieder eine strengere Trennung der Sektionen für „Arbeiter“ und für „Angestellte“ hinsichtlich der zu gewährenden Leistungen und Beiträge anstreben. Die Risken (berufliche Gefährdung) und die Leistungen (Krankengeld) sind noch zu verschieden. Durch das jetzige System erscheinen die „Angestellten“ benachteiligt.

6. Die Krankenkassen müssen von Ausgaben befreit werden, die ihnen wesensfremd sind, zum Beispiel Bau von Ambulatorien, Verwaltungsgebäuden, Erhalt von Spitälern, die bekanntlich immer eine negative Bilanz haben, Vereinfachung des Beamten- und Kontröll-apparates. Eine klare, möglichst detaillierte Bilanz sollte seitens der Krankenkassen der Oeffentlichkeit vorgelegt werden.

7. Gesundheitsschäden infolge des Tabak- und Alkoholkonsums und infolge der zunehmenden Motorisierung (Verkehrsunfälle) müßten durch gesonderte Beitragsleistungen gedeckt werden.

8. Klarheit hinsichtlich der Verschreibung der Medikamente! Entweder entschließt sich die Krankenkasse, eine Liste der Medikamente herauszugeben, für die sie die Kosten übernimmt, oder alle Medikamente sind mit prozentueller Beteiligung des Beziehers erlaubt„ die,bisher „chefarztpflichtigen“ eventuell mit einerii froheren Prozentsatz. In Zusammenarbeit mit deri pharmazeutischen Industrien könnte an der Verpackung noch viel gespart werden (billige Kassenpackungen).

9. Schließlich die oft diskutierte Honorierung der Aerzte! Fast jedes Bundesland hat sein eigenes System, und die „großen Krankenkassen“ haben andere Systeme als die Bahn- oder Bundeskrankenkasse oder die Meisterkrankenkassen. Ob man nun die prozentuelle Beteiligung an den Kasseneinnahmen vorsieht oder nach dem Zettelpauschale mit wenigen Einzel-leistungshonorierungen oder nach einer vollen Einzelleistungshonorierung strebt, würde den Rahmen dieses Berichtes überschreiten. Zwischen den Aerztekammern und den Krankenkassen wird darüber wohl noch viele Stunden debattiert werden müssen. Die Aerzte warnen aber allgemein vor dem Vorschlag des „Jahreslistensystems“. Nach englischem Muster soll jeder Staatsbürger sich für ein Jahr bei einem Arzt registrieren lassen, und dieser wird dann nach Kopfpauschale honoriert. Diese Degradierung des Patienten zu einer Nummer in einer Liste würde auch unter besonderer Berücksichtigung aller ethischen Qualitäten der Aerzte zu Unzukömmlichkeiten führen. Bei einem solchen „Jahrespauschalhonorar“ wären die gesunden oder leicht kranken Patienten sicherlich gern gesehen, während der Dauerkranke oder chronisch Kranke als Ueberlastung angesehen werden würde. Diese Methode würde wohl noch störender auf das Vertrauensverhältnis zwischen Arzt und Patient wirken, als es die Krankenzettel pro Vierteljahr jetzt schon tun. Auch ist das Anhören mehrerer Meinungen bei komplizierten Gesundheitsstörungen notwendig, so wie man bei einem Hausbau mehrere Entwürfe oder Kostenvoranschläge einholt. Jede straffe Reglementierung zwischen dem Patienten und seinem Arzt muß möglichst vermieden werden. Wo zu viele Vorschriften gemacht werden, sucht man noch mehr Wege, sie zu umgehen.

Möge diese Diskussion, die im Herbst die Oeffentlichkeit sicherlich wieder verstärkt beschäftigen wird, im Interesse der Sache möglichst leidenschaftslos geführt werden. Es soll doch nicht nur zur „Sanierung“, sondern zu einer echten „Reform“ unseres österreichischen Krankenkassenwesens kommen.

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