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Reform oder Rekommerzialisierung

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Ein Stand in der Bevölkerung, dessen höchsten Wert wohl niemand in Zweifel ziehen wird, hat durch seine Interessenvertretung die Öffentlichkeit angerufen. Schon lange gehegte Unzufriedenheit wurde von den österreichischen Ärztevertretern in einem Memorandum niedergelegt, das eine Reform der Arbeitnehmerkrankenversicherung anregt. Doch die Äußerung des Unbehagens stieß wiederum auf Unbehagen. Wie so unzählige Male im Ringen der Gesellschaft um ihre Weiterentwicklung scheint eine Annäherung der Standpunkte kaum möglich und wenn nicht Geduld und Klugheit auf beiden Seiten die Oberhand behalten, droht ein ernster Konflikt.

Eine kritische Analyse der unterbreiteten Vorschläge zeigt — es sei vorweg zugegeben — manch mutigen Schritt zur Überwindung erstarrter Formen auf. Dies gilt vor allem für die Forderung nach dem Abgehen von der pauschalierten Krankenscheinverrechnung zugunsten einer echten Leistungshonorierung der Ärzte. Allerdings muß hier schon Erstaunen und Kritik einsetzen: Der Adressat des Vorschlages hat auf den Paragraphen 324 des Allgemeinen Sozialversicherungsgesetzes zu verweisen, der für die Verträge zwischen Kassen und Ärztekammern

„die Vergütung grundsätzlich nach Einzelleistungen“ vorsieht. Nicht das attackierte System ist also am bisherigen Zustand schuld, sondern — dies sei ganz offen festgestellt — die verfehlte Standespolitik der Ärzte selbst. Die bisherige Linie ging nämlich eindeutig in die Richtung, den freiberuflich tätigen Arzt immer mehr in eine arbeitnehmerähnliche Stellung zu bringen, mit relativ stabilem, gesichertem Einkommen aus einer großen Zahl gesammelter Krankenscheine. Der Ruf nach Reform geht also, wenn er nicht eine kaum anzunehmende öffentliche Reue darstellt, völlig daneben, solange sich die Sozialversicherungsträger nicht geweigert haben, die bestehenden Gesamtverträge im gewünschten Sinn zu ändern. Daß eine solche Ablehnung droht, wurde allerdings bisher nicht einmal angedeutet.

Sozial- und Finanztarife

Der Schwerpunkt liegt allerdings anderswo. Es wird von den Ärzten beklagt, daß sich das von der Krankenscheinabrechnung bezogene Einkommen aus „Sozialtarifen“ zusammensetzt. In die kaufmännische Terminologie übersetzt, wären also die Ärztevertreter nicht mit dem Umsatz, sondern nur mit dem Preis unzufrieden, der künftig stärker an die Zahlungskräftigkeit der Kundschaft gebunden sein soll: Sozialtarife für die größere Zahl der Kleinen, Finanztarife für die Wohlhabenden. (Wiederum kaufmännisch gesprochen also die sonst kaum mögliche Beibehaltung des Umsatzes trotz Preiserhöhung.) Das Motiv einfach als Begehrlichkeit zu beurteilen, wäre freilich falsch schon deshalb, weil die aufopferungsvolle Arbeit etwa des praktischen Arztes auf dem Lande kaum überhonoriert werden kann. Der Wunsch nach Zuzahlungen durch den wohlhabenden Patienten wird nicht im offiziellen Memorandum, wohl aber in einer Äußerung des steirischen Ärztekammerpräsidenten recht aufschlußreich begründet: Es sei unsozial, vom Arzt die Behandlung zum Sozialtarif eines Patienten zu verlangen, welcher mehr verdiene als der Arzt.

Hier sind wir nun am wesentlichen Kern des Konzepts angelangt. Sicher ist es übertrieben, von einer „Zertrümmerung“ der sozialen Krankenversicherung durch das gewünschte Aufzahlungssystem zu sprechen (eher schon von einer Zertrümmerung der ärztlichen Betreuung in Arbeiterbezirken, die von zu-zahlungsheischenden Ärzten bald in Richtung Villenviertel verlassen würden). Die Zerlegung einer Versichertengemeinschaft in mehr oder weniger Vollversicherte rückt nämlich dem Grundsatz jeder Versicherung an den Leib, wenn ausgerechnet der kleine Beitragszahler komplett, der hohe Prämien Leistende aber nur zum Teil vor den Risken bewahrt sein soll. Keine Privatkrankenversicherung würde es wagen, die Bezahlung von Operationskosten teilweise zu verweigern, weil der Patient ohnedies wohlhabend ist. Versicherung bedeutet Sicherheit, Beitragsleistung bedeutet Anspruch auf Ersatz, um so mehr, je höher sie ist. Eine Verletzung dieses Grundsatzes in der Sozialversicherung würde auch, wie der Verfasser dieser Zeilen glaubt, einer Prüfung durch den Verfassungsgerichtshof nicht standhalten können. Denn selbst die Tatsache, daß der hochverdienende Arbeitnehmer durch einen Prozentbeitrag vom Einkommen für gleiche Leistungen mehr erbringt, ist nur im Sinne einer Schau sozialer Gerechtigkeit zu tolerieren, denn die Sozialversicherung beinhaltet — wie schon ihr Name sagt — die Hilfe des Starken für den Schwachen.

An dieser Stelle kritischer Auseinandersetzungen müssen wir freilich dem Programm der Ärzte in einer Hinsicht recht geben. Durch die seit Jahren „eingefrorene“ Höchstbei-tragsgrundlage in der ASVG-Kran-kenversicherung tritt eine Reihe äußerst unsozialer Effekte ein. Abgesehen davon, daß alle Arbeiter mit einem Verdienst von mehr als 3000 Schilling auf Krankengeld unterversichert sind, werden immer größere Teile der volkswirtschaftlichen Lohnsumme der sozialen Krankenversicherung entzogen.

Selbst wer dies als mehr oder weniger deklarierter Feind der Kassen begrüßen sollte, wird nicht billigen können, daß sich gleichzeitig die Last der Sicherheit relativ immer mehr auf die Kleinen verlagert. Eine äußerst betrübliche Erscheinung ist der Direktor, der mit Befriedigung registriert, daß sein konstanter 72-Schilling-Beitrag einen immer kleineren Teil seines Einkommens ausmacht, während der Textilarbeiterin von jeder Lohnerhöhung der Krankenversicherungsbeitrag abgezogen wird.

Freilich sind — das sollte gerade der Ärztekammer als politischer Organisation klar sein — auch den besten Vorhaben gewisse Grenzen gesetzt. Die „Arbeiter-Zeitung“ vom 11. Mai gab das erste Alarmsignal. Obwohl die Arbeiterkammern und sozialistische Kassenfunktionäre wiederholt und offiziell entschieden gegen die Unterversicherung aufgetreten sind, deutet die Opposition schon den Kampf gegen eine Belastung durch Anhebung auf nur 3600 Schilling an. Wenn die Absicht der Kritik um jeden Preis dabei auch sehr durchsichtig ist, wird sie bei vielen auf Gehör stoßen.

Ähnliches gilt für die allgemeine Kostenbeteiligung der Versicherten, die einen wesentlichen Punkt im Vorschlagsprogramm der Ärzte darstellt. In letzter Zeit mehren sich die Stimmen, die einer solchen Einrichtung durchaus erwünschte erzieherische Wirkungen zubilligen; dabei scheint die Linie der Meinungen immer mehr quer durch die politischen Fronten zu gehen. Solange allerdings in den Interessenvertretungen der Arbeitnehmer deutliche Ablehnung vorherrscht, wäre eine Durchsetzung verfehlt. Gegen den Willen derer zu reformieren, die jahrzehntelang für den Ausbau ihrer sozialen Einrichtungen gekämpft haben, wäre Unrecht und Mißachtung.

Reformen sind in vieler Hinsicht nötig. Reformen um jeden Preis sind gefährlich. Möglich und zielführend können nur Entwicklungen sein, die gemeinsam durchdacht und mit dem nötigen Realismus in Gang gesetzt werden.

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