Regiert wird anderswo

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Seit Wochen schleppen sich die Sondierungsgespräche dahin. Wird die nächste Regierung die Weichen neu stellen? Wohl kaum - und zwar mangels politischen Spielraums.

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Seit Wochen schleppen sich die Sondierungsgespräche dahin. Wird die nächste Regierung die Weichen neu stellen? Wohl kaum - und zwar mangels politischen Spielraums.

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Zwar heben alle an den Sondierungsgesprächen Beteiligten hervor, in Zukunft werde man alles ganz anders angehen - egal in welcher Konstellation. Man habe den Auftrag der Wähler verstanden. Aber gerade das ist zu bezweifeln. Keine Regierung - in welcher Konstellation auch immer - kann heute in wesentlichen Fragen die Weichen neu stellen. Das wird dem Wähler nur in Vorwahlzeiten vorgegaukelt. Das beste Beispiel dafür ist Jörg Haider selbst mit seinem halben Rückzieher in Sachen Kinderscheck in Kärnten.

Was Rückzieher anbelangt, steht er aber keineswegs allein da. Was hat die rot-grüne Koalition in Deutschland nicht alles an Rückziehern hinter sich! Allein daß ein Grüner, Außenminister Joschka Fischer, plötzlich die Werbetrommel für den Einsatz der Bundeswehr im Kosovo-Krieg rühren mußte, was für ein Kurswechsel für die Partei der Friedensmarschierer. Oder die Rückzieher in Sachen Ausstieg aus der Kernenergie.

Daß die Labour-Regierung, eine Arbeiterpartei, unter Tony Blair einen modifizierten Thatcherismus auf ihre Fahnen geschrieben hat, paßt ebenso ins Bild wie, daß der Kommunist Massimo D'Alema Italien die Tugend der Budgetdisziplin verordnet.

Fazit: In der zweiten Hälfte der neunziger Jahre scheint es ziemlich gleichgültig geworden zu sein, welche Parteien in einem Land gewählt werden. Denn zu guter Letzt kommt ein Regierungsprogramm heraus, das sich weniger den Wahlversprechungen verpflichtet fühlt als den beinharten Sachzwängen.

Wie eng der Spielraum geworden ist, macht die Wortmeldung von Wifo-Chef Helmut Kramer in der vorigen Woche deutlich. Er warnte vor einem Abrutschen Österreichs auf den letzten Platz in Sachen EU-Budgetdisziplin. Gut, solche Warnung fällt in seine Kompetenz als Wirtschaftsforscher. Darüberhinaus aber forderte er Einschnitte im föderalistischen System des Landes, die Vereinheitlichung zahlreicher Bestimmungen, vom Anlagen- zum Wasserrecht, ja bis zum Jugendschutz.

Solche Forderungen stimmen nachdenklich. Ist denn wirklich alles nur mehr unter dem Blickwinkel der wirtschaftlichen Rentabilität und Zweckmäßigkeit zu beurteilen? Heute scheint es fast so. Und das engt den Handlungsspielraum jeder Regierung enorm ein.

Wesentlich zu dieser Sichtweise hat jedenfalls die EU beigetragen. Laut Maastricht-Vertrag ist ihr wesentliches Anliegen, "die Förderung eines ausgewogenen und dauerhaften wirtschaftlichen und sozialen Fortschritts" (Art. B). In der EU-Konstitution wird also (sozialverträgliches) Wirtschaftswachstum gewissermaßen als oberster Wert festgeschrieben. Kein Wunder, daß die Logik der Wirtschaft zum Maß aller Dinge wird. Kein Wunder auch, daß alle Regierungen der Mitgliedsländer die Wirtschaftspolitik ins Zentrum ihrer Überlegungen rücken und andere Anliegen diesem Kriterium unterordnen.

Eingeengt ist ihr Handlungsspielraum auch durch die Fülle von Kompetenzen, die die EU-Staaten an die Brüsseler Zentrale abgegeben haben. Zwar sprechen die Verträge von Maastricht und Amsterdam vom Subsidiaritätsprinzip, dieses wird aber auf sehr eigenwillige Weise interpretiert. Es dient nicht so sehr als Schutz der Entscheidungsbefugnisse der nationalen Instanzen, sondern ermächtigt die Brüsseler Zentrale immer dann zu agieren, wenn sie meint, Ziele seien auf Gemeinschaftsebene besser zu erreichen als auf nationalem Niveau. Der EU-Kritiker Günther Witzany bezeichnet das als "Subsidiarität von oben".

Bis in welche Bereiche hinein da reguliert wird, ist wahrlich erstaunlich: Da gibt es Regelungen über die Wassermenge in Klospülungen, Beginn und Ende von Jagdzeiten, Bedingungen für den Käseverkauf aus eigener Erzeugung auf Märkten, die Festlegung der Krümmung von Gurken und der Größe von Äpfeln oder Paradeisern im Verkauf, die Käfiggröße von Hühnerbatterien... Und EU-Gemeinschaftsrecht hat Vorrang vor staatlichen Regulierungen.

Eindrucksvoll ist aber nicht nur der Detaillierungsgrad bestimmter Regelungen sondern auch die Zahl der Bereiche, die in die Kompetenz der Gemeinschaft fallen. Neben der Wirtschaft sind es die Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik (GASP), Fragen der inneren Sicherheit (Europol), die Sozialpolitik, die Forschung, die Bildung, der Katastrophen- oder der Verbraucherschutz... Diese Gemeinsamkeit bringt zweifellos in vielen Bereichen Vorteile, aber sie ersetzt eben die nationale Entscheidung.

Selbst dort, wo es noch keine explizite Regelungen gibt, wird der nationale Handlungsspielraum indirekt vom Trend zur Harmonisierung erfaßt, sei das nun in der Bildungs-, Umwelt- oder Steuerpolitik. Wie eingeschränkt beispielsweise der Spielraum in Fragen des Umweltschutzes ist, wenn es um die Verkehrspolitik geht, zeigt ein interner Bericht des Umweltbundesamtes ("Verkehrspolitik und Umweltbelastung") auf. Da heißt es etwa: "Dagegen ist es auf den Rechtsgrundlagen der Verordnungen und Richtlinien der EU im Verkehrsbereich den Mitgliedsstaaten fast gänzlich unmöglich, verstärkte Umweltschutzmaßnahmen zu ergreifen oder beizubehalten."

Und wie unerbittlich die Logik der Mitgliedschaft ist, zeigt auch die stillschweigende Abschaffung der immerwährenden Neutralität Österreichs. Sie ist zwar nach wie vor Anlaß für den Nationalfeiertag, hindert die Regierung aber nicht, Österreichs Beteiligung an einem Europäischen Korps zuzusagen.

Ist es somit wirklich von so großer Bedeutung, welche Regierung bei den endlosen Verhandlungen herauskommt? Vieles spricht jedenfalls dafür, daß es in weiten Bereichen ziemlich belanglos sein dürfte. Denn der Handlungsspielraum der nationalen Regierungen ist mittlerweile so weit eingeschränkt, daß politisches Handeln zum Exekutieren von Gemeinschaftsrecht und zur Erfüllung von wirtschaftlichen Sachzwängen geworden ist. Was immer wir wählen, unsere Volksvertreter werden mit unterschiedlichen Akzentsetzungen das Voranschreiten auf einem vorgegebenen Entwicklungspfad exekutieren.

Eigentlich eine merkwürdige Entwicklung nach 50 Jahren Aufschwung, der uns zwar eine Verfünffachung des materiellen Wohlstandes aber eine Einschränkung der politischen Optionen beschert hat.

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