Reiches, armes Gespaltenes Indien

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Die Völker Indiens beginnen sich zunehmend gegen die ökonomische Liberalisierung aufzulehnen und um Mitbestimmung über die Nutzung ihres Lebensraumes zu kämpfen.

"Nie! Nie im Leben werden wir unser Land hergeben.“ Die Stimme von Sisir Mahapatri vibriert heftig, während er mit einer kräftigen Handbewegung seine Entschlossenheit untermauert: "Der Grund und Boden hier ernährt meine Familie, mein Dorf und eine Reihe anderer Dörfer seit Generationen, und er wird auch noch meine Ururenkel ernähren.“ Mahapatri ist Bürgermeister des Dorfes Dhinkia im ostindischen Bundesstaat Orissa. In einen Lungi, das traditionelle Lendentuch, und ein Hemd gekleidet, sitzt er in seinem mit Reisstroh gedeckten Lehmhaus. Draußen weht ein sanfter Wind durch die Betelnussbäume. In einiger Entfernung befinden sich Reisfelder und Fischteiche. "Pana, Mina, Dhana - Betel, Fisch und Reis - das sichert uns ein gutes Leben“, sagen die Einheimischen.

Wäre alles nach dem Willen der indischen Regierung verlaufen, so hätten Sisir Mahapatri und Tausende weitere Bauern längst ihr Land aufgeben müssen. Denn die Regierung unterzeichnete 2005 ein Übereinkommen mit dem südkoreanischen Stahlkonzern POSCO, demgemäß POSCO in Orissa ein Bergwerk zum Abbau von Rohstoffen, ein Stahlwerk sowie einen eigenen Hafen errichten kann. Doch die Bauern, deren Land enteignet werde sollte, haben eine erfolgreiche Widerstandsbewegung organisiert, weswegen POSCO bis heute nicht mit den Arbeiten beginnen konnte. Derzeit liegt das Projekt auf Eis, nachdem zwei von der Regierung eingesetzte Kommissionen ermittelt haben, dass das Projekt Umwelt- und andere Gesetze verletzen würde. "Wir werden unseren Widerstand nicht aufgeben“, betont Bürgermeister Mahapatri gegenüber der FURCHE: "Bei POSCO kommen bestenfalls ein paar von uns unter - in unqualifizierten, schlecht bezahlten Jobs. Die anderen können nur in die Stadt in den Slum ziehen und als Tagelöhner arbeiten. Und wenn POSCO dann wieder geht, hat keiner von uns mehr etwas.“ Tatsächlich fällt die Bilanz der indischen Regierung bei der Entschädigung und Rehabilitation von Menschen, die in der Vergangenheit wegen Industrieprojekten abgesiedelt wurden, äußerst schlecht aus.

Proteste gegen Enteignungen

Die Bauern in Orissa stehen mit ihren Protesten gegen Landenteignungen nicht alleine da. In den Bergen von Orissa sowie des benachbarten Bundesstaates Andhra Pradesh wehren sich tribale Gruppen gegen den - ebenfalls im Widerspruch zu den Gesetzen stehenden - Abbau von Rohstoffen, der unweigerlich zur Absiedelung der lokalen Bevölkerung und zur Zerstörung weiter Waldgebiete führen würde. In Westbengalen musste der TATA-Konzern vor einigen Jahren dem Druck der Bevölkerung weichen und seine Fabrik für die Erzeugung des "Nano“-Kleinwagens in einen anderen Landesteil verlegen. Im Streit um das Nano-Werk kam es, so wie in zahlreichen anderen Fällen, zu gewaltsamen Auseinandersetzungen zwischen der lokalen Bevölkerung und den Sicherheitskräften.

Wachstum auf wessen Kosten?

Entwicklung und Wirtschaftswachstum für wen und auf wessen Kosten? Das ist die Frage, die vielen aktuellen Konflikten in Indien zugrunde liegt. Seit der 1991 eingeleiteten Öffnung und Liberalisierung seiner Wirtschaft hat das Land beeindruckende Wachstumsraten verzeichnen können. Auch von der jüngsten weltweiten Wirtschafts- und Finanzkrise hat sich Indien relativ schnell erholt. Die Wachstumsrate liegt wieder bei acht oder neun Prozent, in einzelnen Sektoren übersteigt sie zehn Prozent. Die indische Wirtschaft setzt auf den Konsumenten in den Bereichen Telekom, Autos, Immobilien und Gebrauchsgüter. Gemäß der Times of India hat der Konsument "den großen Drang zu prassen“.

Dieser Drang sticht tatsächlich allenthalben ins Auge. Zahlreiche neue, mit allen Annehmlichkeiten ausgestattete Wohnviertel werden errichtet, das Angebot an luxuriösen Restaurants wächst beständig. Coffeeshop-Ketten wie Barista oder Café Coffee Day machen gutes Geschäft.

Doch ein Kaffee und ein Kuchen bei Barista kosten mehr als ein durchschnittlicher Arbeiter an einem Tag verdienen kann - vorausgesetzt, er findet überhaupt einen Job und erhält dafür auch den gesetzlich vorgeschriebenen Mindestlohn. Bei vielen Tagelöhnern, die sich ihr Geld am Bau verdienen, ist das nicht der Fall. Der Bausektor spielt derzeit zwar eine bedeutende Rolle für die indische Wirtschaft, doch diejenigen, welche die Luxuswohnbauten, Konzerngebäude und Fabriken errichten, leben selbst an oder unter der Armutsgrenze. Geschätzte 54 Millionen Kinder von Wanderarbeitern wachsen auf Baustellen auf, berichtete vor wenigen Tagen der TV-Sender NDTV unter Bezug auf staatliche Quellen.

Manche indische Ökonomen und Sozialwissenschaftler sprechen heute von "zwei Indien“ - den oberen 20 bis 25 Prozent, die von der 1991 eingeleiteten Öffnungs- und Liberalisierungspolitik profitieren, und jenen anderen 75 bis 80 Prozent, die weitgehend in ländlichen Räumen leben und von der Landwirtschaft abhängen oder aus der Not heraus in die städtischen Slums abgewandert sind.

Nicht profitiert von der ökonomischen Entwicklung der vergangenen zwei Jahrzehnte haben unter anderem die Adivasis, die indigenen tribalen Gruppen, die landesweit rund acht Prozent der 1,2 Milliarden Inder ausmachen, in einigen Bundesstaaten wie Orissa, Jharkand und Chhattisgarh aber einen wesentlich höheren Anteil der Bevölkerung stellen. Die meisten Adivasis leben in besonders rohstoffreichen Waldgebieten. Laut den in den vergangenen Jahren verabschiedeten Gesetzen dürfen diese Rohstoffe nur mit der Zustimmung der Adivasis abgebaut werden. Doch diese Gesetze werden häufig missachtet. Tausende Bergbaubetriebe in Indien arbeiten ohne jegliche Lizenz, viele andere mit fragwürdigen Genehmigungen. Die korrupten Verbindungen zwischen Politikern und Unternehmern haben in jüngster Zeit zu mehreren Rücktritten und Gerichtsverfahren geführt, doch laufend werden neue Bergbaubetriebe tätig.

Für die Entwicklung seiner Städte, für neue Autobahnen, U-Bahnen und Industrien benötigt Indien immer mehr Rohstoffe. "Wir sind nicht gegen Entwicklung“, sagt Vattam Upendra von einer Adivasi-Protestbewegung in Andhra Pradesh, "aber wir wollen die Entwicklung in unseren eigenen Lebensräumen mitbestimmen und auch davon profitieren.“

Der Widerstand gegen die rücksichtslose Ausbeutung der Rohstoffe wächst. Maoistische Guerillakämpfer, die in den 1960er-Jahren ihren Kampf für die Rechte der Landlosen aufnahmen, sind heute in mehr als einem Drittel aller indischen Bezirke aktiv. Die steigende staatliche Repression gegen die Maoisten wird von Menschenrechtsaktivisten als "Krieg gegen das eigene Volk“ bezeichnet. Inwieweit die Maoisten jeweils die Interessen von Kleinbauern und Adivasis vertreten, wer sie unterstützt und wer zwischen die Fronten von Maoisten und staatlichen Sicherheitskräften gerät, ist oft sehr schwer zu eruieren.

Empörung über Urteil

Ende 2010 wurde dem Arzt Binayak Sen, der seit vielen Jahren unter den Adivasis arbeitet, wegen seines angeblichen Engagements für die Maoisten der Prozess gemacht. Das Urteil - lebenslange Haft - hat in weiten Kreisen Indiens Empörung ausgelöst.

"Gewalt und staatliche Gegengewalt werden leider kein einziges Problem lösen“, sagt die international renommierte indische Umweltaktivistin Vandana Shiva und weiß sich damit eins mit jenen Teilen der Zivilgesellschaft, welche die Achtung von Demokratie, Menschenrechten und Gesetzen einfordern. "Wenn Indien die Maoisten erfolgreich bekämpfen will, dann muss es für Gerechtigkeit sorgen“, betont Vandana Shiva. "Wenn die Regierung nicht ständig neue Widerstandsbewegungen sehen will, dann muss sie einen anderen Entwicklungsweg einschlagen, einen, der nicht täglich die Kluft zwischen Arm und Reich vergrößert.“

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