Reise in die kurdische Wehr-Stadt

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Kobanê ist das Symbol des kurdischen Widerstandes gegen den Islamischen Staat. Aber wie sieht es in der Stadt heute aus? Ein österreichischer Reporter berichtet.

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Kobanê ist das Symbol des kurdischen Widerstandes gegen den Islamischen Staat. Aber wie sieht es in der Stadt heute aus? Ein österreichischer Reporter berichtet.

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"Nicht nur werden die Sowjets sich weigern, unserem geliebten, heldenhaften Warschau zu helfen, sondern sie werden mit der größten Freude zuschauen, wie das Blut unserer Nation bis zum letzten Tropfen versickern wird". Das sagte der polnische General Wldyslaw Ander, als er 1944 den Aufstand gegen die deutsche Wehrmacht anführte. Und er sollte Recht behalten: die Rote Armee blieb am östlichen Ufer der Weichsel und wartete, bis die Deutsche Wehrmacht den polnischen Widerstand gebrochen hatte.

Der Satz des polnischen Generals kam mir in den Sinn, als ich am 30. September 2014 auf der türkischen Seite der schwer bewachten Grenze zu Syrien stand. Große Teile der Stadt waren in die Hände des IS geraten und es schien nur mehr eine Frage von wenigen Tagen zu sein, bis der kurdische Widerstand zusammenbrechen würde. Eine Reihe von Fernsehanstalten hatte ihre Übertragungsfahrzeuge aufgebaut; um über den, wie sie glaubten bevorstehenden Fall von Kobanê sofort berichten zu können. Am 9.10.2014 ließ Spiegel Online schon die Totenglocken für Kobanê läuten: "Tausende Flüchtlinge aus Kobanê harren auf den Hügeln auf der türkischen Seite der Grenze aus. Sie wissen: Ihre Heimat ist verloren".

Erfolgreiche Luftschläge

Die Luftschläge der US-amerikanischen Luftwaffe und ihrer Verbündeten gegen den IS, aber auch der Einsatz der kleinen, aber bestens ausgerüsteten Peschmerga-Einheit ermöglichten den kurdischen Volksverteidigungseinheiten, die Dschihadisten des IS zurückzudrängen. Ende Jänner konnten die kurdischen Kämpfer melden: Kobanê ist frei!

Da es nur selten gelingt, von den Türken die Genehmigung zu erhalten, legal nach Kobanê einzureisen, musste ich es illegal versuchen. Wir waren eine Gruppe von zehn Männern, die sich am Abend des 2. April einem ortskundigen Führer anvertrauten. Nach einer kurzen Begrüßung gab er uns Verhaltensregeln: "Gehen sie genau hinter mir. Wenn ich in Deckung gehe, tun Sie das auch und wenn ich laufe, laufen Sie auch. An manchen Stellen müssen wir in gebückter Haltung laufen, damit wir von den Scheinwerfern der türkischen Grenzpolizisten nicht erfasst werden." - Er hatte nicht zu viel angekündigt. Der Laufschritt bergauf ließ mich nach Luft ringen. Das letzte Stück vor der Grenze stützten mich zwei junge Kurden. Gegen 22 Uhr hatten wir es geschafft. Auf der syrischen Seite erreichten wir den ersten militärischen Stützpunkt, von wo wir mit Autos nach Kobanê gebracht wurden. Fatima, meine Kontaktperson hatte mich bereits erwartet.

Schon ein erster Rundgang durch die Stadt ließ die schweren Kämpfe erahnen, die hier stattgefunden hatten. Fatima schätzt, dass mindestens 70 Prozent der Stadt zerstört wurden. "Wir verlassen nie die geräumten Straßen, da noch massenhaft scharfe Munition herumliegtund wir vermuten, dass die IS-Terroristen Sprengfallen errichtet haben", sagt Fatima.

Danach besuchen wir den Mishtenur, eine Anhöhe, die heiß umkämpft war, und in die Hände der Angreifer gefallen war. Aufgrund seiner strategisch günstigen Lage war Mishtenur danach zu einer tödlichen Bedrohung für die Kurden geworden war. Mit seiner Rückeroberung war ein entscheidender Schritt zur Befreiung Kobanês getan worden.

Auch im schmucklosen Regierungsgebäude wurde ein Kapitel Kriegsgeschichte geschrieben. Als die Kämpfe ihren Höhepunkt erreicht hatten, konnten sich die Islamisten im Erdgeschoss festsetzen, der erste Stock aber wurde von kurdischen Truppen gehalten. Einen ganzen Tag lang dauerten die Auseinandersetzungen, die schließlich mit der Vertreibung der IS endeten.

Frontbesuch

In einem ehemaligen Kinosaal besuche ich eine Pressekonferenz, in der Pläne über den Wiederaufbau Kobanês und über ein Museum, das den Widerstand gegen den IS dokumentieren soll präsentiert werden sollen.

Am nächsten Tag fahren wir an die Front. Nach 30 Kilometern erreichen wir einen Militärposten, der am Fuße eines Hügels liegt. Oben auf dem Hügel befindet sich ein Beobachtungsposten, von dem die Stadt Jarabulus auf der anderen Seite des Euphrats zu sehen ist, die nach wie vor vom IS besetzt ist. "Vor knapp drei Wochen haben wir dieses Gebiet erobert", erzählt uns Kommandant Rojger Firat, "es war stark vermint. Die Luftangriffe der alliierten Bomber hatten die Nachschublinien des IS empfindlich getroffen und seine Kampfmoral entscheidend geschwächt. Derzeit ist es an unserem Frontabschnitt ruhig. Nur ihre Scharfschützen liegen auf der Lauer".

Auf der Rückreise geraten wir in der Stadt Eschme in eine Geburtstagsfeier zu Ehren des inhaftierten Abdullah Öcalan. In unmittelbarer Nähe zum Festgelände liegt das neu errichtete Grabmal Süleyman Shahs - Großvater von Osman I., dem Gründer des Osmanischen Reiches - dessen sterbliche Überreste in der Nacht zum 22. Februar 2015 von türkischen Truppen mit tatkräftiger kurdischer Unterstützung an diesen Ort überführt worden waren. In Kobanê selbst besuchten wir eine weitere Geburtstagsfeier.

Am 5. April treffe ich Anwar Muslim, den Ministerpräsidenten der Kantonsregierung. Der 1976 in Kobanê geborene Rechtsanwalt hatte sich 2005 als Verteidiger politischer Gefangener einen Namen gemacht und wurde 2007 ins Parlament gewählt. 2011 war er inhaftiert und nach Beginn der Revolution wieder freigelassen worden. Seit April 2014 ist er Premierminister des Bezirks Kobanê. Er gibt mir einen Überblick über die schlimmsten Anschläge: "27 Fahrzeuge voller Sprengstoff haben die Dschihadisten des IS in die Luft gejagt. Mehr als 110 Mörsergranaten sind eingeschlagen. Und es gab immer wieder Selbstmordattentate."

Die Flüchtlinge sollten, so meint er, mit der Rückkehr warten. "Wir können die Leute jetzt noch nicht zurückbringen, weil vieles noch nicht funktioniert. Es gibt weder Nahrung noch Medizin. Wegen der unzähligen Leichen, die noch unter den Schuttmassen liegen, könnten Seuchen ausbrechen." Trotzdem sind schon hunderte Familien zurückgekehrt und auf den wenigen geräumten Straßen spielen Kinder Fußball.

Danach hatte ich noch die Möglichkeit, Brigadier Yasein, den Kommandanten der 150 Mann starken Peschmerga Truppe zu besuchen, der mit türkischer Genehmigung und mit schweren Waffen den Verteidigern von Kobanê zu Hilfe gekommen war. "Es gibt hier viele Probleme, aber es ist ein gutes Gefühl, unsere Brüder und Schwestern unterstützen können."

Am Ende des Tages empfing mich Mahmud Berxwedan, der Oberkommandierende der Volksverteidungseinheiten (YPG) der Sieger von Kobanê. Auch er erzählt über die Gefechte im Haus des Regierungsgebäudes. Die Unterstützung durch die Freie Syrische Armee (FSA) betrachtet er als einen symbolischen Akt. Anders beurteilt er die Hilfe der Peschmerga. " Auch wenn sie nur wenige sind, so sind sie doch mit ihren schweren Waffen eine wertvolle Unterstützung. Besonders erfreulich ist aber die Tatsache, dass wir zum ersten Mal nicht gegeneinander, sondern miteinander, Seite an Seite kämpfen".

Die Lufteinsätze der USA und ihrer Verbündeten hält er für gut und notwendig. "Sie kamen aber sehr spät. 45 Tage lang standen wir mit unseren Kalaschnikows allein den Panzern des IS gegenüber. Trotzdem hatten wir 'nur' 500 Gefallene zu beklagen, der IS dagegen etwa 5.000".

Vorteile für die Kurden

Tatsächlich hat der Aufstieg des Islamischen Staates neben den Verbrechen, die in seinem Namen bereits begangen worden sind, auch Vorteile gebracht: Masud Barsani spielt heute auf der weltpolitischen Bühne eine Rolle, die PKK und ihre syrisch-kurdische Schwesterpartei PYD werden zunehmend als ernstzunehmende Gesprächspartner angesehen und ihre Diffamierung als "terroristische Organisationen" dürfte und müsste bald zu Ende gehen. Dazu kommt, dass zum ersten Mal Peschmerga-Kämpfer Seite an Seite mit denen der PKK und PYD gegen einen gemeinsamen Feind kämpfen.

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