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Rücktrittsfieber

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Unter den sieben Bundesräten der schweizerischen Eidgenossenschaft ist das Fieber der Rücktrittsfreude ausgebrochen. Im Augenblick haben bereits zwei, nämlich der Volkswirtschaftsminister Hans Schaffner und der Außenminister Willy Spühler, ihre Demissionen eingereicht. Stündlich sind noch andere Abschiede zu erwarten, und man rechnet in Bern damit, daß die Zahl sich bis auf vier erhöhen könnte. Das würde der Demission von mehr als der Hälfte der schweizerischen Bundesregierung gleichkommen. In jedem anderen Land würde man also von einer höchst akuten Regierungskrise sprechen, und trotzdem hat die ausländische Presse diese Entschlüsse nur unter Kurznachrichten gemeldet

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Unter den sieben Bundesräten der schweizerischen Eidgenossenschaft ist das Fieber der Rücktrittsfreude ausgebrochen. Im Augenblick haben bereits zwei, nämlich der Volkswirtschaftsminister Hans Schaffner und der Außenminister Willy Spühler, ihre Demissionen eingereicht. Stündlich sind noch andere Abschiede zu erwarten, und man rechnet in Bern damit, daß die Zahl sich bis auf vier erhöhen könnte. Das würde der Demission von mehr als der Hälfte der schweizerischen Bundesregierung gleichkommen. In jedem anderen Land würde man also von einer höchst akuten Regierungskrise sprechen, und trotzdem hat die ausländische Presse diese Entschlüsse nur unter Kurznachrichten gemeldet

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Die Schweizer Presse hat sich selbstverständlich den Vakanzen mit größerer Anteilnahme gewidmet, aber weniger aus staats- als vielmehr aus parteipolitischen Überlegungen. Die Stabilität der Schweiz, seit 1848 bestens bewährt, scheint also keineswegs gefährdet. Damals bestand die siebenköpfige Kollegialregie rung ausschließlich aus Freisinnigen, also Liberalen oder Radikalen, je nachdem, welche Terminologie ange- wendiet wird. 1892 traten diese einen Sitz an einen Konservativen, also an einen Katholiken, ab. 1920 wurde das Verhältnis nochmals geändert: fünf Freisinnigen standen von nun an zwei Katholiken gegenüber. Zehn Jahre später, 1930, mußten sie einen Sitz einem Bauernvertreter überlassen, dem also noch vier Freisinnige und zwei Konservative zur Seite standen. 1944, mitten im Krieg, vollzog sich ein wesentlicher Wandel, indem die Regierung einen Sozialdemokraten aufnehm, der zusammen mit drei Freisinnigen, 2 Konservativen und einem Bauernvertreter regierte. Ein Jahrzehnt später, 1954, schied der Sozialdemokrat aus und überließ seinen Sessel einem Konservativen. Seit 1960 herrscht nun in Bern das, was man die „Zauberformel“ nennt: zwei Freisinnige, zwei Konservative, zwei Sozialdemokraten und ein Bauemvertreter.

Tatsächlich ist es seit 1948 noch nie vorgekommen, daß ein amtierender Bundesrat, der sich nach vierjähriger regulärer Amtszeit wieder beworben hat, nicht wiedergewählt wurde. Es gab — auch das nur ausnahmsweise — höchstens den gut eidgenössischen Kompromiß, daß man einen mißliebigen (dies geschah vor allem im Zusammenhang mit den beiden Weltkriegen) Minister noch vor der Neuwahl dazu bewog, seine Kandidatur zurückzuziehen. Hingegen kam es wiederholt vor, daß bei einer Neuwahl nicht der von der Partei offiziell vorgeschlagene Kandidat Gnade vor dem Parlament,

das als Wahlgremium fungiert, fand, daß also zum Beispiel ein Konservativer mit Unterstützung der Sozialdemokraten in die Regierung aufstieg, und zwar gegen den Willen der konservativen Partei selbst. Das gleiche passierte einmal auch den Sozialdemokraten und der Bauernpartei.

In diesem Punkt zeichnet sich eine große Schwierigkeit des Regierens ab, die allerdings dadurch gemildert wird, daß die Schweiz keine parlamentarische Demokratie ist. Die Regierung ist nur als Ganzes, als Kollegium, dem Parlament gegenüber verantwortlich, es kann ein einzelner Minister überhaupt nicht gestürzt werden. Gerade deshalb macht man sich dann meistens Luft, wenn einmal einer der sieben Staatsmänner amtsmüde wird. Dann setzt sofort unter den Parteien ein hektisches Treiben ein, um dieser einen Demission vielleicht noch andere folgen zu lassen. Auf diese Weise ergeben sich nämlich bessere Auswahlmöglichkeiten für die Nachfolge, die durch die Verfassung außerordentlich eingeengt ist. So dürfen auf keinen Fall zwei oder mehr Bundesräte aus demselben Kanton stammen. Überdies müssen die Sprachregionen angemessen vertreten sein.

Diese Bestimmungen — ob sie nun paragraphenmäßig festgelegt oder nur in einer alten Tradition begründet sind — schaffen besonders in der Jugend eine gewisse Malaise. Sie erkennt nämlich mit Recht, daß auf diese Art keine Gewähr dafür geboten ist, die wirklich Besten und Fähigsten nach Bem zu entsenden. Es ist aber in der Schweiz, nicht zuletzt aus der unglaublichen Stabilität heraus, fast ebenso unmöglich, Paragraphen zu ändern wie Traditionen umzustoßen.

All das führt dann eben dazu, daß in dem Augenblick, da eine Vakanz eintritt, so etwas wie eine Regierungskrise augbricht. Diesmal zum Beispiel stammt der beste freisinnige Kandidat, der den zurückgetretenen VoTkswirtschaftsm'nister ablösen soll, aus Zürich. Es wäre unmöglich gewesen, ihn zu portieren, weil der Zürcher Sitz bereits vom sozialdemokratischen Außenminister eingenommen wird. Da aber nun der Außenminister seinerseits demissioniert hat, ist diese Hürde aus der Welt geschafft, doch geht das Karussell nun bei den Sozialdemokraten weiter, indem ihr bester Mann wieder aus einem Kanton stammt, der schon einen Vertreter im Bundesrat hat…

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