Russlands 30-jähriger Krieg

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Am Beginn des Tschetschenien-Krieges zählte man 3.000 Rebellen. 15.000, heißt es, wurden bislang getötet - aber noch immer sind 3.000 übrig.Diese Rechnung geht nicht auf - trotzdem setzt die russische Seite allein auf das Militär und verweigert jedes Gespräch.

Der bisherigen Politik Russlands war in Tschetschenien kein Erfolg beschieden. Das hat auch der Anschlag tschetschenischer Terroristen auf das Regierungsgebäude in Grosny - mit mehr als zweihundert Toten und Verletzten - wieder gezeigt. Und nichts berechtigt zur Annahme, dass sich ohne Änderung der russischen Tschetschenien-Politik in der Zukunft Erfolge einstellen werden. Im Gegenteil, es ist zu befürchten, dass die Auseinandersetzungen an Grausamkeit zunehmen.

Zum ersten Mal haben sich beim Anschlag in Grosny Selbstmordattentäter gefunden, die es bisher dort nicht gab. Schließlich zeigte die Sprengung des Regierungsgebäudes, wie korrupt Teile der russischen Besatzungsarmee sind: ohne ihre Mithilfe wäre es kaum möglich gewesen, mehr als tausend Kilo Dynamit in als russische Militärlastautos getarnten Fahrzeugen an den Checkpoints vorbei ins Ziel zu steuern.

Schon mit dem Geiseldrama vom vergangenen Oktober in einem Moskauer Theater war ein neues Kapitel in dem schon drei Jahre dauernden zweiten Tschetschenienkrieg aufgeschlagen worden. Beschränkten sich bisher die Aktionen der tschetschenischen Terroristen auf Tschetschenien und allenfalls noch auf die umliegenden Gebiete, so gelang es ihnen durch diese spektakuläre Geiselnahme, den Krieg sozusagen ins Herz Russlands zu tragen.

Putin kriminalisiert Partner

Präsident Putin hat aus den Ereignissen Schlüsse gezogen, die sehr zu denken geben. Dies gilt vor allem für Putins Entschlossenheit, den Konflikt mit den Aufständischen in Tschetschenien ausschließlich auf militärische Weise zu lösen. Kategorisch weist er jede Idee von Verhandlungen mit den Rebellen von sich. Indem er den tschetschenischen Präsidenten Maschadow für den Terrorakt verantwortlich macht, obwohl dieser versicherte, von ihm nichts gewusst zu haben, kriminalisiert er seinen wichtigsten potenziellen Verhandlungspartner. Unbeirrt von der Tatsache, dass seine bisherige Tschetschenienpolitik keinen Erfolg hatte, hält Putin am Prinzip fest, alle Aufständischen seien Terroristen, die man militärisch unschädlich machen muss.

Täglich dringen Meldungen von Menschenrechtsverletzungen durch den Vorhang der offiziellen Nachrichtensperre. Sie erzeugen Hassgefühle in der Bevölkerung und bereiten den Boden für die Fortsetzung des Krieges.

An Bush Maß genommen

Der russische Soziologe Boris Kagarlitsky meint, dass sich in Russland seit dem Geiseldrama wieder ein autoritäres Regime mit Pressezensur, willkürlichen Verhaftungen und Hausdurchsuchungen herausbildet. Um den Kampf gegen die Terroristen und Separatisten zu führen, wurden das Militär und die Sicherheitsorgane besser dotiert und mit mehr Vollmachten ausgestattet. Gleichzeitig wurde die Freiheit der Massenmedien eingeschränkt. Ähnlich wie in den USA, wo Bush die Einschränkung der Bürgerrechte als Mittel zur Terrorismusbekämpfung gegen massive Bedenken liberaler Kräfte durchsetzte, will auch Putin die russischen Bürger besser kontrollieren. Anders als die USA hat Russland aber kaum liberale und demokratische Traditionen, die die Gefahr des Rückfalls in autoritäre Verhaltensmuster der Behörden mildern. Das kümmerliche Pflänzlein der russischen Zivilgesellschaft riskiert auf dem Boden der Terrorismusbekämpfung zu verdorren.

Putin will zudem mit seinem amerikanischen Kollegen auch außenpolitisch gleichziehen: eine neue russische Sicherheitsdoktrin soll die Regierung in die Lage versetzen, wenn nötig überall auf der Welt präventiv gegen potenzielle Terroristen vorzugehen. Putin nützt auf diese Weise die Gelegenheit, nicht nur seine Position im Inneren zu stärken, sondern sich international jenen Handlungsspielraum zu sichern, den Bush schon längst für sich in Anspruch nimmt.

Obwohl die öffentliche Meinung mehrheitlich die Politik Putins unterstützt, gibt es doch gewichtige Stimmen, die zur Richtungsänderung mahnen. Angesehene Persönlichkeiten wie der ehemalige Regierungschef Primakow, der seinerzeitige Parlamentspräsident Chasbulatow, selbst ein Tschetschene, sowie die bekannten Abgeordneten Jawlinskij, Arbatow und Aslachanow kritisieren Putins Weigerung, den Weg der Verhandlungen in Tschetschenien zu beschreiten.

In der Zeitschrift Argumenti i Fakti entwickelte Chasbulatow seine Ideen, wie Tschetschenien befriedet werden könnte: "Zu Beginn müssten internationale Beobachter nach Tschetschenien kommen und mit ihrer Vermittlung Verhandlungen zwischen den Streitteilen, den Vertretern der leidgeprüften Bevölkerung und der russischen Regierung aufgenommen werden. Tschetschenien müsste ein besonderer Status international abgesicherter Autonomie und größtmögliche Selbstständigkeit gewährt werden. Im Wesentlichen verbliebe nur die Staatsbürgerschaft, das Geld- und Zollwesen bei Moskau."

Verbleib in Russland

Aslachanow behauptet, dass ihm Vertreter Maschadows versichert hätten, mit dem Verbleib Tschetscheniens innerhalb der russischen Föderation einverstanden zu sein und von tschetschenischer Seite keine erniedrigenden Forderungen an Russland gestellt würden.

Wiederholt hat Putin erklärt, dass die Vernichtung der "Terroristen und Banditen" nur eine Voraussetzung für die friedliche Lösung des Tschetschenienkonflikts darstellt. Danach soll ein Referendum betreffend eine neue Verfassung für die rebellische Republik abgehalten werden. Inzwischen wird ein Dialog Moskaus mit tschetschenischen Vertretern geführt. Das Problem besteht allerdings darin, dass sich die russische Seite einer Selbsttäuschung hingibt, weil die Dialogpartner von Moskau ausgewählt werden und nicht den tschetschenischen Widerstand repräsentieren. Erinnert man sich in Moskau nicht der Erfahrungen, die man 1996 machte? In Tschetschenien wurden zwar Wahlen abgehalten. Das daraufhin installierte moskauhörige Parlament und dessen Regierung wurden vom Volk jedoch nicht als legitim angesehen. Und während sich die Russen der Illusion einer angeblich "politischen Lösung" der Tschetschenienfrage hingaben, ging der Krieg mit voller Intensität weiter.

Mit Raketen ausgerüstet

Heute stehen 80.000 russische Soldaten in Tschetschenien, die von etlichen tausend moskautreuen Milizen unterstützt werden. Verteidigungsminister Iwanow hat diesen Truppen den Auftrag erteilt, mit größter Härte durchzugreifen. Nach allen bisherigen Erfahrungen weiß man, was das zu bedeuten hat. Mit Sicherheit kann man voraussagen, dass die strengen Maßnahmen der russischen Behörden den Widerstand nicht brechen, sondern ihm vielmehr neue Kräfte zuführen werden.

Die Rebellen sind jetzt auch technisch hervorragend ausgestattet und waren in der Lage, in zwei Monaten sechs Helikopter mit Boden- Luftraketen abzuschießen. Der russische Militärwissenschaftler Pavel Felgenhauer erinnert daran, dass die amerikanischen Stinger Raketen seinerzeit den Russen in Afghanistan die Lufthoheit nahmen und sie letztlich zum Rückzug zwangen. Ähnliches könnte sich seiner Meinung nach auch in Tschetschenien ereignen, wo die russischen Kräfte ungleich schwächer seien als seinerzeit die sowjetische Besatzungsmacht in Afghanistan. Unter dem kombinierten Druck von Angriffen mit technisch hochentwickelten Waffen und mächtigen Terroranschlägen könnten die russischen Truppen in die Flucht geschlagen und Tschetschenien den Extremisten vom Schlag der Taliban überlassen werden.

Der Direktor des Zentrums für ethnopolitische und regionale Forschung, Emil Pain, der schon Jelzin als Berater vor einem Krieg in Tschetschenien gewarnt hat, stellt jetzt folgende Rechnung auf: Von einer Million Tschetschenen sei zumindest die Hälfte zum Widerstand und zur Unterstützung von Partisanen bereit. Keine Armee der Welt sei in der Lage, diesen Widerstand zu brechen. Für den neuen "Dreißigjährigen Krieg" hätten die Tschetschenen den längeren Atem.

Der Dumaabgeordnete von Tatarstan, Fandas Safiullin, äußerte sich ähnlich, als er darauf hinwies, dass die tschetschenische Bevölkerung wegen der ihr zugefügten Misshandlungen jedes Vertrauen in die russische Verwaltung verloren habe. Russland züchte sich auf diese Weise immer wieder neue Terroristen: "Am Beginn des Krieges zählte man 3.000 Rebellen. Heute sagt man uns, dass 15.000 getötet worden sind und nur mehr 3.000 übrig seien. Das bedeutet, dass diese 15.000 uns 1999 unterstützt hatten und wir sie zu Rebellen gemacht haben!"

Kein Einspruch erlaubt

In ihrem Kampf gegen die Tschetschenen betonen die Russen, dass es sich um eine rein innerrussische Angelegenheit handle und sie sich von niemandem bei der Wahl der Mittel etwas dreinreden lassen werden. Dies mag völkerrechtlich argumentierbar sein, obwohl sich Russland durch die Missachtung der Menschenrechte in Tschetschenien selbst ins Unrecht setzt und gegen internationale Verpflichtungen verstößt.

Schwerer wiegt die politische Tatsache, dass der Weg, den Russland beschreitet, von größter Relevanz für ganz Europa ist. Er entfernt das Land von den Grundsätzen der demokratischen Zivilgesellschaft. Gerade den Freunden Russlands muss die in Tschetschenien entfachte Eigengesetzlichkeit, die ins Unheil führt, massiv Sorgen bereiten. Und es zeugt von beängstigender Kurzsichtigkeit, wenn der amerikanische Präsident seinem russischen Kollegen in dieser Art Terrorismusbekämpfung Unterstützung gewährt.

Der Autor ist Botschafter und leitete während des österreichischen Vorsitzes der OSZE (Februar 2001) die Unterstützungsgruppe der OSZE für Tschetschenien.

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