Die Frage nach der Dominanz der Nationalkonservativen oder des liberalen Flügels spielt angesichts der Sachzwänge der Regierung zur Realpolitik eine vernachlässigbare Rolle.
Wenn man heute über den Standort der ÖVP und über ihre Zukunft diskutieren will, muss man sich einmal vor Augen halten, dass diese Partei von ihren Gründungsvätern als Weltanschauungs, Integrations und Interessenpartei angelegt wurde.
In dem halben Jahrhundert ihrer Existenz haben sowohl die Gesellschaft als auch die politischen Parteien eine wesentliche Veränderung erfahren. Dies trifft sicher für alle im Parlament vertretenen Parteien zu und aus diesem Grund ist auch der Versuch der Positionierung einer liberalen Partei kläglich gescheitert. Die Ursache des Unterganges des liberalen Forums ist sicher der Tatsache zuzuschreiben, dass sich auch in den Großparteien, so man diese Bezeichnung heute überhaupt noch verwenden kann, viele Sympathisanten selber als liberal einstufen und demgemäß auch verhalten.
Der jahrelange Entideologisierungs- und Entpolitisierungsprozess hat dazu geführt, dass immer mehr Bürger sich die Frage stellen, wofür die einzelnen Parteien eigentlich stehen. Wo ist die im Jahre 1945 selbstverständliche Weltanschauung der ÖVP oder die der SPÖ geblieben? Wofür steht die FPÖ? Hat sie doch auch als Regierungspartei das "Dagegen-Sein" weiterhin zur Maxime ihres Handelns erhoben. Und welch signifikante Wandlung erleben wir gerade bei den Grünen. Wo ist ihr vielgerühmtes Rotationsprinzip geblieben? Ist es nicht bezeichnend, dass heute die Grünen über die längst dienenden Parlamentarier in ihren Reihen verfügen?
An diesen Gedanken kann man aber auch ablesen, dass die Frage nach der Dominanz der sogenannten Nationalkonservativen oder die Frage nach der Dominanz des sogenannten liberalen Flügels eigentlich damit beantwortet werden muss, dass für die Regierung die Sachzwänge dominieren und die seinerzeitigen verhaltensprägenden Überzeugungen vielfach der Realpolitik gewichen sind. Verhalten sich heute nicht oft Exponenten der Sozialdemokratischen Partei wesentlich konservativer als manche Christdemokraten? Und versuchen nicht manche Christdemokraten den sogenannten Fortschritt von Ideen auf ihre Fahnen zu heften.
50 Jahre friedliche Entwicklung in Österreich haben die Erfordernisse der Politik gründlich geändert. Wir sehen uns der ständig abnehmenden Akzeptanz von Autoritäten gegenüber und auch das Rollenbild der Frau hat sich in diesen Jahrzehnten grundlegend verändert. Die Bevölkerungspyramide steht auf dem Kopf und die Erfindung des Mikrochips wird bekanntlich als revolutionärer angesehen als der Übergang vom Mittelalter zur Neuzeit. All diese Veränderungen stellen für eine Volkspartei natürlich eine schier unüberwindliche Herausforderung dar. Dazu kommt der eherne Grundsatz, dass Politik nichts anderes bedeutet, als die Notwendigkeit, das Zusammenleben von Menschen in einer Gemeinschaft zu gestalten.
Wenn zum Beispiel die Geburtenrate in unserem Lande immer weiter sinkt, hat die Politik entsprechende Maßnahmen zu ergreifen. Wenn die Menschen immer älter werden und durch längere Ausbildung immer später in den Arbeitsprozess eingegliedert werden können, sind auch entsprechende Maßnahmen zu treffen, und da ist es gleichgültig, ob jemand sozialliberal oder wertkonservativ denkt.
Dazu kommt noch, dass von allen politischen Gruppierungen das Persönlichkeitswahlrecht forciert wird. Der bekannte Politiker nimmt seine Partei sozusagen in Schlepptau. Vor Jahrzehnten hingegen wurde der Politiker von seiner Partei getragen.
Aus all diesen Überlegungen ergibt sich schlüssig, dass wir mitten in einem tiefgreifenden Veränderungsprozess stehen. Wenn die Parteien dabei immer mehr in den Hintergrund treten und ausschließlich einzelne Personen das politische Sagen haben - aber auch das haben wir in der Geschichte schon öfters erlebt - bleibt für Flügelkämpfe in der Partei eigentlich wenig Platz. Dennoch muss man auch sagen, dass auf Grund der Veränderung und des Verlustes von Werten auch schon wieder eine gewisse Reideologisierung notwendig wird.
Von allen in Österreich regierenden Parteien hat aber die ÖVP zweifelsohne nach wie vor die größte Berechtigung als mögliche wirksame Vertretung aller Bevölkerungsgruppen angesehen zu werden. Die Bezeichnung Christdemokraten beinhaltet ja schon die Grundsätze nach denen die ÖVP wirken soll und muss. Nämlich auf den Errungenschaften der christlichen Kultur unsere demokratische Staatsordnung zu festigen und zu vertiefen.
Der Autor war Zweiter Präsident des Nationalrates, Bundesminister für Landesverteidigung und ist Präsident des Österreichischen Clubs.
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