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Saubere Umwelt als Menschenrecht: Hoffnungsschimmer für geplagte Bürger

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Eine Feststellung des Europäischen Gerichtshofs mit weitreichenden Folgen: Wohnen ohne Belästigung (Umweltverschmutzung) ist ein Menschenrecht.

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Eine Feststellung des Europäischen Gerichtshofs mit weitreichenden Folgen: Wohnen ohne Belästigung (Umweltverschmutzung) ist ein Menschenrecht.

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Schon vor vielen Jahren hat Österreich die Europäische Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten unterzeichnet. Dieser Vertrag der Völker bedeutet nicht nur eine feierliche Erklärung und Bekräftigung von Rechten der Person. Jeder angeschlossene Staat hat vielmehr eine ganze Reihe konkreter Pflichten übernommen. Eine der wichtigsten ist, daß sich die Länder den Entscheidungen des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte zu unterwerfen haben.

Das kann für den einzelnen Bürger ganz bedeutsame Auswirkungen haben, ebenso natürlich auch für den Staat. Dieser muß nicht nur den besonderen Fall, dessentwegen er in Straßburg verurteilt wurde, sozusagen „reparieren”, sondern unter Umständen auch ganze Gesetze, die im Ergebnis vor den strengen Richtern des „EGMR” keine Gnade finden. So ist zum Beispiel die Einrichtung der Unabhängigen Verwaltungssenate in Österreich eine Konsequenz aus der Rechtsprechung des internationalen Gerichts.

Von der Öffentlichkeit viel zu wenig beachtet ist nun im Dezember 1994 ein Urteil ergangen, das weitreichende Bedeutung haben könnte. Dabei ging es um die Anwendung des Artikels 8 der Konvention. In diesem wird zunächst lakonisch festgestellt, daß jedermann Anspruch auf Achtung seiner Wohnung hat. Im folgenden Absatz werden Eingriffe in dieses Recht nur dann für statthaft erklärt, wenn sie vom Gesetz zur Wahrung ganz bestimmter nationaler beziehungsweise öffentlicher Interessen vorgesehen werden.

Im Anlaßfall hatte eine Spanierin den Weg nach Straßburg angetreten, weil sie in ihrer Wohnung „gravierenden Belästigungen beziehungsweise Beeinträchtigungen” ausgesetzt war. Diese wurden durch Abgase einer Anlage hervorgerufen, welche man zu Beseitigung von Abfallstoffen aus Gerbereien in unmitteF barer Nähe errichtet hatte. Die Belastung muß hier sehr stark gewesen sein, denn es erfolgte vorübergehend sogar eine Evakuierung der ortsansässigen Bevölkerung in der unmittelbaren Nähe des Betriebes.

Wesentlich ist nun, mit welcher Begründung in diesem Fall auf Verletzung der Menschenrechtskonvention erkannt wurde. Zunächst ist bedeutsam, daß der Gerichtshof feststellte, daß „schwere Umweltverschmutzung das Wohlbefinden von Menschen sowie die Ausübung des Rechts auf ungestörten Genuß der Wohnung beeinträchtigen kann”. Damit kann aber in der Folge eine „Beeinträchtigung des Privat- und Familienlebens” erfolgen, selbst dann, wenn - wie im Urteil ausdrücklich festgestellt wird - keine ernsthafte Bedrohung der Gesundheit vorliegt (Urteil vom 9. Dezember 94, A/303-C).

Das bedeutet, daß bei der Prüfung, ob Auswirkungen von Betrieben und anderen Anlagen auf die Umwelt hingenommen werden müssen, nicht mehr allein der gesundheitliche Gesichtspunkt zu beachten ist. Es ist heute Praxis der Behörden, bei Lärm, Abgasen, Staub, Erschütterungen et cetera Gutachten darüber einzuholen, ob eine Schädlichkeit im medizinischen Sinn gegeben ist.

Dabei ist auch heute schon darauf zu achten, ob nicht schon allein die andauernde psychische Belastung in der weiteren Folge objektivierbare Gesundheitsstörungen verursachen kann. Gestützt werden solche Überlegungen auf objektive Messungen, welche eine hohe Intensität der Belästigungen ergeben müssen. Es wird dabei sozusagen vom durchschnittlich robusten Menschen ausgegangen und eine „Übersensibilität” bleibt unberücksichtigt.

Daran wird sich auch in Zukunft nichts ändern. Das Neue — und es ist fast sensationell zu nennen — ist freilich, daß der Europäische Gerichtshof das „Wohlbefinden” in den Vordergrund seiner Überlegungen stellt, und zwar auch dann, wenn die Gesundheit nicht ernsthaft bedroht ist. Womit keineswegs gesagt ist, daß man künftig alle Betriebe in der Umgebung damit wird verhindern können, daß man behauptet, man sei eben in diesem vom Urteil erwähnten Wohlbefinden gestört. Es werden aber die Bewilligungsbehörden in Zukunft das unternehmen müssen, was das Gericht im Fall der Spanierin vermißte, nämlich einen „fairen Ausgleich zwischen den wirtschaftlichen Interessen und individuellen Interessen des Artikels 8 EMRK”, also auf Achtung der Wohnsphäre. Man wird daher immer auch in Betracht ziehen müssen, ob nicht einfach durch die Immissionen von einem Betrieb eine so starke Störung eintritt, daß die häusliche Lebenssphäre untragbar beeinträchtigt wird.

Österreich ringt nach wie vor um einen vernünftigen Ausgleich zwischen den wirtschaftlichen Interessen, die für Betriebseinrichtungen sprechen, einerseits und dem Schutz der persönlichen Umwelt der Menschen anderseits. Immer wieder werden die Gesetze über Bewilligungs-verfahren geändert, oft zum Besseren, manchmal aber auch ins Gegenteil. Weder wird das Straßburger Urteil nur den Gesetzgeber veranlassen, das Steuer herumzureißen, noch wird es die Behörden bewegen können, auf einmal ganz anders zu entscheiden. Allein das Wissen, daß Bewilligungsbescheide, die man gegen den Protest von Anrainern durchdrückte, beim Gerichtshof für Menschenrechte fallen können, wird aber längerfristig auch in Österreich nicht ohne Wirkung bleiben können.

Jeder Betroffene wird gut beraten sein, sich notfalls auch auf Artikel 8 der Konvention und das EGMR-Er-kenntnis zu berufen, wenn er mit seinem Standpunkt nicht durchdringt. Die Kommission und dann das Gericht zu befassen, wird aber nur sinnvoll erscheinen, wenn es sich um einen wirklich krassen Fall handelt, wie es der war, der nun entschieden wurde. Immerhin ist aber ein neuer Aspekt aufgetaucht, der sehr ernst genommen werden sollte und der vielleicht einmal sogar als Meilenstein auf dem Weg zu einem besseren Schutz der Lebensqualität betrachtet werden könnte.

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