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Ein prominenter palästinensischer Christ über den Wahlsieg der Hamas.

Wie leicht wäre es gewesen, alle zufrieden zu stellen. 40 Prozent für die regierende Fatah-Partei, 40 Prozent für die militante Hamas und rund 20 Prozent für die vier kleinen "unabhängigen" bzw. "linken" Parteien: Wären die Palästinenser-Wahlen ausgefallen, wie es die überwiegende Mehrheit der Meinungsumfragen prophezeit hat - kaum einer hätte sich beklagen können. Fatah wäre weiterhin die führende Partei gewesen, auch wenn man sich in einer Koalition mit einer oder zwei der kleinen Parteien abstreiten müsste. Hamas hätte - gestärkt durch einen Stimmenzuwachs - auf dem "faulen Stuhl" in der Opposition verharren können. Und den kleinen Parteien wäre immerhin das Gefühl geblieben, als "Makler" oder Störer diverser politischer Geschäfte wichtig zu sein.

Umfassender Schock

Es sollte anders kommen - schockierend anders: Mit 74 von 132 Abgeordnetenmandanten erreichte die Hamas die absolute Mehrheit und verwies die etablierte Fatah - erstmals seit deren Gründung 1964 - mit 45 Sitzen in die zweiten Reihe. Die kleinen vier Parteien waren nicht minder schockiert: Sie mussten sich nur sieben Prozent der Stimmen teilen.

Der überwältigende Sieg überraschte niemanden so sehr wie die Hamas selbst, die auf ein Regierungsamt nicht vorbereitet ist. Auch die Bevölkerung wurde überrumpelt: Obgleich sie für einen Wechsel votieren wollte, hatte sie mit diesem Ausgang nicht gerechnet. Ebenso erstaunt war die us-Administration über dieses "demokratische" Ergebnis. Und auch Israel war gefangen vor lauter Erstaunen angesichts der Tatsache, dass seine Geheimdienste in den Vorhersagen falsch gelegen hatten.

Bekümmert zeigten sich schließlich auch die palästinensischen Christen: Sie erhielten sieben Sitze im neuen Parlament, wobei ihnen sechs ohnehin entsprechend der Mindestquote laut "Präsidentenerlass" zugestanden wären. Diese sechs sind Abgeordnete der Fatah. Die siebente Christin, Hanan Ashrawi, wurde über die Liste "Dritter Weg" gewählt, welche, nebenbei erwähnt, die einzigte Liste war, die einen sicheren Platz für Christen reserviert hatte.

Für die Mehrheit der Christen - und für viele säkulare und intellektuelle Muslime - ist die soziale Agenda der "Islamisierung" durch die Hamas beängstigend: Man fürchtet "Kleidercodes" oder das Verbannen von Alkohol. Es wird Zeit brauchen, bis die Folgen dieses Schocks verarbeitet sind. Dann ist freilich eine Analyse dessen, was in der palästinensischen Gesellschaft geschehen ist, unvermeidlich.

Friedlicher Wechsel

Ein Freund fragte mich: "Du warst immer gut im Reden über die grenzenlosen Möglichkeiten angesichts der riesigen Herausforderungen. Kannst du sie immer noch erkennen?" Meine Antwort lautete: "Unbedingt!" Ich will die Sorgen und Gefahren, die sich hinter der "Grünen Revolution" nicht reduzieren. Und ich will auch nicht die Möglichkeit einer Islamisierung unserer Gesellschaft herunterspielen, ebenso wie potenzielle Auseinandersetzungen zwischen Hamas und Fatah bzw. die Wahrscheinlichkeit einer Isolierung Palästinas durch die internationale Gemeinschaft. Nur muss man auch die Kehrseite der Medaille sehen:

Dies ist etwa das erste Mal im Mittleren Osten, dass die "Spielregeln" einer einzigen Partei friedlich durch demokratische Wahlen beendet wurden. Die Menschen haben genug von der Fatahund votierten für einen Wechsel. Dieser hat nicht nur mit der Macht der Hamas zu tun, sondern auch mit einem notwendigen Prozess in der palästinensischen Gesellschaft.

In Wahrheit bedeutet der Wechsel auch das Ende der plo, so wie wir sie kennen, denn ihre Parteien und Strukturen haben keinerlei Bezug mehr zu den Anliegen der Palästinenserinnen und Palästinenser. Eine neue politische Landkarte muss nun entstehen. Dieser Prozess bringt auch unendliche Möglichkeiten mit sich. Die Identität der Fatah nach Arafat muss neu geformt werden. Die linken Parteien in Palästina müssen aus ihren süßen Träumen und Ideologien erwachen, zusammenfinden und eine neue Vision entwickeln. Die Hamas ist nun gezwungen, ihre Fähigkeiten unter Beweis zu stellen, um das liefern zu können, was sie versprach - und um zu lernen, wie eine Regierung aufzubauen ist, anstatt im "faulen Stuhl" der Opposition zu verharren. Und die Menschen in Palästina müssen sich daran gewöhnen, ihre Repräsentanten in demokratischen Wahlen zur Rechenschaft zu ziehen.

Kein Rückzug ins Private!

Und wir palästinensischen Christen? Wir sind vor allem aufgerufen, uns nicht zu fürchten oder uns von der politischen Sphäre zurückziehen! Wir sind aufgerufen, an der Suche nach einer neuen palästinensischen Identität mitzuwirken. Wir sind aufgerufen, die alten und ineffektiven Strukturen abzulösen und durch ein neues politisches Systems zu ersetzen, das modern und berechenbar ist. Im Kontext der Instrumentalisierung von Religionen sind wir insbesondere aufgerufen, uns für eine neue Form tiefer Spiritualität einzusetzen und eine Vision neuer Hoffnung anzubieten. Daran mitzuwirken, ist nicht nur Herausforderung, sondern auch Privileg.

Der Autor ist evangelischer Theologe sowie Pfarrer an der Weihnachtskirche in Bethlehem.

BUCHTIPP: Bethlehem hinter Mauern. Geschichten der Hoffnung aus einer belagerten Stadt. Von Mitri Raheb Gütersloher Verlagshaus 2005.

184 Seiten. Fotos, geb. e 17,40

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