Für die Eidgenossen ist das Wort „Regierungskrise“ ebenso ein Fremdwort wie der Ausdruck „Vertrauensvotum“ oder das „Kabinett“ und der „Minister“. All das kennt man in der Schweiz so wenig wie den Ministerpräsidenten und die Konsultationen zur Bildung einer neuen Regierung. Auch der Staatspräsident und der Bundeskanzler sind in Helvetien nicht das, was sie andernorts sind. Der Bundeskanzler ist keineswegs der Vorsitzende der Regierung, sondern ihr Sekretär, und statt eines Staatspräsidenten kennt man in Bern lediglich einen Bundespräsidenten, das heißt einen Vorsitzenden der Landesregierung, der seine Befugnisse nur ein Jahr lang ausübt. Turnusgemäß obliegen die Pflichten eines Quasistaatsoberhauptes einem der sieben Mitglieder der Landesregierung, die in Bern den Namen „Bundesrat“ trägt — eine Bezeichnung, die auch jedem der sieben Regierungsmitglieder zukommt.
Die sieben Bundesräte werden jeweils nach den Parlamentswahlen für eine Amtsdauer von vier Jahren von beiden Kammern in gemeinsamer Sitzung gewählt und können in der Zwischenzeit durch kein Mißtrauensvotum abberufen werden. Die Mittel, einen mißliebigen Bundesrat loszuwerden, beschränken sich auf politischen Druck, der etwa ausgeübt wird, um ihn zu einem „freiwilligen“ Verzicht auf sein Mandat zu bewegen. Zu diesen Mitteln zählt auch der „Wink mit dem Zaunpfahl“, den das Parlament gelegentlich bei der alljährlichen Wahl des Bundespräsidenten und seines Stellvertreters, des Vizepräsidenten, einem Amtsträger verabreicht, mit dem es nicht recht zufrieden ist oder dem mehr oder weniger Parlamentarier mit leeren Stimmzetteln bedeuten wollen, „es sei an der Zeit“, an den Rücktritt zu denken...
Durchkreuztes Doppelspiel
Das war im Dezember 1966 der Fall, als bei der Wahl des Bundes-Vizepräsidenten nicht weniger als 70 (von insgesamt 240) Wahlzettel leer, ein Dutzend ungültig eingelegt wurden und weitere 20 Zettel andere Namen als den des tunwsgemäß zum Zuge kommenden „Außenministers“ Spühler trugen.
Unbehagen über UNO-Initiative
Der „Außenminister“ bekam — und das war ein Wink an ihn höchstpersönlich — das Unbehagen über seine UNO-Initiativen zu spüren (wir haben die Leser über diese Initiative in Nr. 48 der „Furche“ orientiert); man ist in weiten parlamentarischen Kreisen ungehalten über sein Vorprellen, das er anscheinend weder mit der (für die Außenpolitik kollektiv verantwortlichen) Landesregierung noch mit den außenpolitischen Kommissionen des Parlaments abgesprochen hat. Dazu kommen aber noch andere Gründe der Demonstration. Zum ersten manifestiert sie die Enttäuschung, um nicht zu sagen Erbitterung der bürgerlichen Regierungspartner über das Doppelspiel der Sozialisten als Regierungspartei und Opposition, wie es nun in der finanzpolitischen Haltung ihrer Parlamentsfraktion besonders kraß sichtbar geworden ist.
Die beiden Sozialisten in der Regierung haben nämlich das Bundesratsprogramm zur Überwindung des finanziellen Engpasses des Staatshaushaltes mit beschlossen und gebilligt, ihre Partei aber sagte dem Programm hinterher den Kampf ans sie opponierte sowohl der Aus-gabenreduktion (namentlich dem Subventionsabbau) wie auch dem Sofortprogramm zur Beschaffung zusätzlicher Bundeseinnahmen, weil sie glaubte, daß sich mit dieser Politik nächstes Jahr die Nationalratswahlen gewinnen lassen. Die Partei möchte die Vorteile der
Regierungsbeteiligunig mit denen der Opposition verbinden. Das hat, namentlich im konservativen Lager, das seinerzeit gegen freisinnigen Widerstand die Regierungsbeteiiigung der Sozialisten ermöglicht hat, Erbitterung ausgelöst. Angesichts der nie aufgegebenen freisinnigen Opposition gegen die „Zauberformel“ der* proportionalisiarten Regierung wäre es nicht ausgeschlossen gewesen, daß die gegenwärtige Koalition mit den Sozialisten von der bürgerlichen Parlamentsmehrheit im Dezember 1966 anläßlich der Ge-samterneuerungswahl des Bundesrates liquidiert und die Sozialdemokratie in die Opposition gezwungen worden wäre, hätte nicht schließlich im Parlament die Mehrheit der Sozialisten dem Sofortprogramm doch noch zugestimmt
Winke mit dem Zaunpfahl?
Spühler, der an Lebensjahren älteste Bundesrat, bekam aber bei der Vizepräsidentenwahl noch etwas anderes zu spüren, nämlich einen Wink der Westschweiz. Seiner Wahl war in derselben Sitzung der vereinigten Kammern diejenige eines neuen Mitgliedes des Bundesrates vorausgegangen. Der helvetische Wehrminister, Bundesrat Paul Chaudet, hatte einigermaßen überraschend auf die Dezembersession hin seinen Rücktritt erklärt und war, nach turbulenten Wahlvorbereitungen, nicht durch einen französischsprachigen Westschweizer, sondern durch einen Vertreter der italienischen Schweiz, den Tessiner Nationalrat Nello Celio, ersetzt worden. Die Westschweiz, die in der Regel zwei Sitze im siebenköpfigen Regierungsgremium belegt, ist dadurch auf eine Einervertretung reduziert worden, und der eine, der sie „vertritt“, hat, nach der Meinung der bewußt protestantischen Roman-die, noch den doppelten Mangel, aus dem nur zur Hälfte französisch-sprachigen Wallis zu stammen und Katholik zu sein.
Die Deutschschweizer mußten die unangenehme Schiedsrichterrolle spielen, zwischen dem Tessiner und dem welschen Anspruch zu entscheiden; sie taten es mit der Zusicherung, daß bei nächster Gelegenheit wieder ein Romand zum Zuge kommen soll. Dieser Romand steht nach Meinung prominenter Königsmacher in der Person des Waadt-länder Sozialisten Pierre Graber schon bereit. Ihm aber ist einstweilen der Zürcher Sozialist Spühler im Wege. Das weitere kann man sich ausrechnen: Sozialisten, die lieber den profilierteren Graber als den etwas blassein Spühler in der Regierung sähen, aber auch Westschweizer, die den Deutschschweizern ihren Anspruch bei erstbester Gelegenheit unter die Nase reiben wollten, fanden sich mit den „Demonstranten“ zusammen, die den Sozialisten ihre Doppelrolle heimzahlen oder dem Außenminister eine Bremse anlegen wollten.
Keine Bundesratswahl ohne Volksfest
Man mag im Ausland über diese Art des Politisierens lächeln. Sie ist aber verständlich als eine Art Ersatz für die „mangelnden“ Regierungskrisen. Bundesratswahlen und was drum und dran ist vermögen die Schweizer in einem mit ihrem politischen Temperament seltsam kollidierenden Ausmaß zu fesseln. Es manifestiert sich darin zweifelsohne ein Kompensationsbedürfnis. Bumdesratswahlen sind ein Ersatz für Staats- und Regierungskrisen,
De Gaulle muß entgegenkommen
Immerhin wird auch de Gaulle verstanden haben, daß für einen neuen Anlauf zur Verbesserung der Beziehungen zwischen Bonn und Paris auch Gesten von seiner Seite erforderlich sind. Er muß der neuen Bundesregierung so viel an Hand geben, daß ihr Bemühen um Frankreich auch in den Augen der deutschen Öffentlichkeit gerechtfertigt wird.
Dabei kann die Auflockerung der Ost-West-Beziehungen, für die sich der General seit geraumer Zeit als eifriger Schrittmacher betätigt, ein besonderer Testfall werden. In Bonn verspricht man sich einiges davon, wenn de Gaulle sein Prestige in den kommunistischen Hauptstädten zugunsten der deutschen Politik, wie Bonn sie auffaßt, in die Waagschale wirft. Der Bundesregierung wäre deshalb viel daran gelegen, wenn es auf diesem Gebiet zu einer baldigen, wohlabgestimmten und energischen deutsch-französischen Zusammenarbeit käme. Bisher hat Bonn die Auflockerung seiner Beziehungen zum Osten im Alleingang versucht, ist dabei jedoch nicht weit vorangekommen.
Erster Schritt: „Politische Union“?
Allerdings scheinen auch an dieser Stelle für Bonn dunkle Wolken aufzuziehen. Anläßlich der Dezembertagung der NATO haben die Außenminister der drei Westmächte ihrem Bonner Kollegen nahegelegt, einen deutschen Beitrag zur Entspannungspolitik zu leisten und hierfür deutsche Vorschläge zu unterbreiten. Wer die lange Geschichte der internen Verhandlungen zwischen den ausgeht, festzustellen, ob er mit den neuen Herren in Bonn mehr anfangen kann als mit deren Vorgängern Erhard und Schröder. Er hat deshalb in jüngster Zeit in mehreren Briefen nach Bonn — auch an Adenauer — sein Bekenntnis zur Notwendigkeit der deutsch-französischen Zusammenarbeit nachdrücklich unterstrichen. Dabei haben ihn zwar fraglos auch rein taktische Rücksichten auf die bevorstehenden französischen Wahlen geleitet. Doch ist man in Bonn geneigt, in den Bekundungen des Generals mehr zu sehen. Man glaubt deshalb daran, daß der Augenblick günstig sei, um in den deutsch-französischen Beziehungen einen neuen Anfang zu setzen.
Der Silberstreif:
Ost-West-Beziehungen
Hierfür bietet sich eine beträchtliche Zahl von Möglichkeiten an: Zusammenarbeit auf dem Gebiet der Wissenschaft und Forschung, der Rüstungsproduktion, der wirtschaftlichen Verflechtung usw. Mit einigen Ausnahmen — zu denen der Jugendaustausch gehört — ist man auf diesen Gebieten in den letzten Jahren wenig vorangekommen, jedenfalls nicht so, wie es einmal sowohl in Bonn wie in Paris erwartet worden war.
Wie weit die neue Regierung in Bonn mehr tun kann, wird die Zeit lehren. Den guten Willen hierzu hat sie. Jedoch untersteht das Ressort Rüstungsproduktion' dem Verteidigungsminister Schröder, und dessen unterkühlte Haltung gegenüber Frankreich hat sich augenscheinlich nicht verändert. Aber auch die Franzosen selbst sind nicht immer bequeme Partner, gleichviel, um welches Gebiet der Zusammenarbeit es sich handelt. Sie wissen ihre Vorteile sehr geschickt und zäh zu suchen für Ministerstürze und Vertrauensfragen. Und die Bundesratswahlfeiern, die jeweils im Hedmatkanton des neugewählten Bundesrates für diesen veranstaltet werden, haben in Helvetien eine ähnliche Bedeutung wie eine Fürstenhochzeit in den Monarchien.
Die Tessiner haben „ihren“ Nello Celio nach seiner glanzvollen Wahl In die Landesregierung über alle Parteischranken hinweg überschwenglich gefeiert und das gemeinsame Vaterland (auf das sie noch kurz zuvor, nämlich am schweizerischen Bundesfeiertag, dem 1. August, als „mißhandelte Stiefkinder der Nation“ geschimpft hatten) hochleben lassen als das Land, das seine Minderheiten pfleglich und gerecht zu behandeln weiß. Ein Apropos „Departement“: das ist die offizielle schweizerische Bezeichnung für „Ministerium“. Und mit der Verteilung dieser Departements nach einer Bundesratsersatzwahl hat es ebenfalls seine eigene, schweizerische Bewandtnis.
Seilziehen um Ministersessel
Noch bevor Celio gewählt war, setzte in Helvetien das Raten über die Neuverteilung der Ministerien ein. Celio als Finanz- und Wirtschaftsfachmann, so erklärten viele, gehöre nicht in das von seinem Vorgänger verwaltete Militärdepartement. Es fanden dies vor allem Celios freisinnige Parteifreunde, die dieses Ministerium namentlich im Hinblick auf die Nationalratswahlen 1967 als schwere parteipolitische Hypothek des Freisinns betrachten, die sie je rascher, desto lieber los wären. Denn das schweizerische Kriegsministerium und sein Chef Chaudet vermochten im Volksbewußtsein bisher den Vertrauensschwund, der seit der Mirage-Affäre auf ihm lastet, nicht zu tilgen, und der Freisinn hat in mehreren kantonalen Wahlen für die Seßhaftigkeit Bundesrat Chaudets in der Landesregierung teuer zahlen müssen. Er übte daher auf diesen einen gelinden Druck aus, als er sich turnusgemäß zur Wahl als Bundes-vizepräsidenlt stellen wollte, und suchte ihn zum Verzicht auf diese Kandidatur zu bewegen. Chaudet aber war anderer Ansicht: er wollte das Vizepräsidium, und als die Parlamentsfraktion sich dagegen stemmte, reichte er die Demission als Bundesrat ein.
Mit der Wahl seines Nachfolgers in den Bundesrat ist die Verteilung der Ministerien jedoch nicht prä-judiziert worden. Man legt Wert darauf, jeweils nicht in erster Linie einen Fachminister, sondern einen Regierungsmann zu wählen, der die Voraussetzungen nicht nur für ein einziges Departement mitbringen soll. Celio nun machte kein Hehl daraus, daß er auf das vom Konservativen Bonvin verwaltete Finanzministerium reflektierte, für das er als Finanz- und Wirtschaftsspezialist bessere Voraussetzungen mitbringe als der eher für das Verkehrs- und Energiewirtschaftsdepartement oder das Innenministerium geeignete Ingenieur Bonvin. Für den geeignetsten Chef des „Kriegsministeriums“ hielt man allgemein den Bauern-, Gewerbe- und Bürgerparteiler Gnägi, der aber ebensowenig Lust nach einem Departementswechsel an den Tag legte wie Bonvin. Sowohl Bonvin wie Gnägi stehen nämlich mitten in dringlichen Reformaufgaben ihrer Departments, die keinen großen Aufschub ertragen. Man soll mitten im Galopp die Pferde nicht wechseln, sagt ein altes Schweizer Sprichwort, das in solchen Situationen von den Politikern gerne angerufen wird.
So hat denn die Landesregierung dem neuen Bundesrat das Militärressort übertragen und im übrigen alles beim alten belassen, sehr zum Leidwesen jener, die ein großes Revirement erhofft hatten. Sie müssen sich mit dem Trost abfinden, daß nächstes oder übernächstes Jahr weitere Rücktritte bevorstehen dürften, die dann den großen „Schub“ erleichtern. Bundespräsident Bonvin bezeichnete jedenfalls selber vor der Presse die nun getroffene Lösung als Übergangsordnung. Sie hat den Vorteil, daß nicht bereits nach einem oder zwei Jahren bereits wieder eine neue Aufgabenteilung vorgenommen werden muß. Durch das beschlossene Provisorium wird nichts präjudiziert, aber anderseits auch nichts gelöst. Das veranlaßt resignierte Kritiker des Bundesrates zum Stoßseufzer, daß in Helvetien nichts von Dauer sei als das Provisorium^..