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Schweizer und Osterreichische Verfassung

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Die nachstehenden Ausführungen des um Geschichte und Landeskunde Tirols hochverdienten Gelehrten bilden ein Bekenntnis zu den Grundsätzen des historischen Föderalismus, der besonders aus Tirol vom Beginn der ersten Verfassungsversuche an seine kompromißlose Vertretung fand. Es ist das Verdienst seiner Vorkämpfer, daß im bewegten Wandel der österreichischen Verfassungsgeschichte doch das Prinzip des Bundesstaates gewahrt worden ist, sogar in der ersten österreichischen Republik schärfer herausgearbeitet werden konnte. „Die Furche

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Die nachstehenden Ausführungen des um Geschichte und Landeskunde Tirols hochverdienten Gelehrten bilden ein Bekenntnis zu den Grundsätzen des historischen Föderalismus, der besonders aus Tirol vom Beginn der ersten Verfassungsversuche an seine kompromißlose Vertretung fand. Es ist das Verdienst seiner Vorkämpfer, daß im bewegten Wandel der österreichischen Verfassungsgeschichte doch das Prinzip des Bundesstaates gewahrt worden ist, sogar in der ersten österreichischen Republik schärfer herausgearbeitet werden konnte. „Die Furche

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Im Jahre 1848 haben sich 21 Schweizer Kantone und zwei Halbkantone zum schweizerischen Bundesstaate zusammengeschlossen und sich eine Verfassung gegeben, die in ihrem Wesen noch heute in Kraft steht. 70 Jahre später wurden die deutschen Länder des alten, großen Österreichs, zum neuen, kleinen Österreich zusammengeschlossen und dem neuen Staate eine Verfassung gegeben. Diese wurde in den Jahren nach 1918 wiederholt umgestaltet, dann vom Nationalsozialismus gänzlich beseitigt. Warum war die S:hweizer Verfassung so standfest und di* österreichische so hinfällig? Die Grundlagen für den Aufbau der Verfassung waren hier und dort ähnliche. In der Schweiz waren es die Kantone, die sich 1848 zum Bundesstaat zusammenschlössen. Bisher hatten sie auf Grund des Bundes Vertrages von 1815 nur einen Staatenbund dargestellt, in welchem die einzelnen Kantone Eigenstaatlichkeit in weitestem Ausmaß besessen hatten. In der Zeit zwischen 1S15 und 1848 war eine starke Bewegung auf Revision der bestehenden Verfassung entstanden. Träger der Bewegung waren die Liberalen, Ziel war eine Verstärkung der Zentral-gewak auf Kosten der kantonalen Selbständigkeit. Die Kantone, in welchen die Konservativen die Mehrheit besaßen, schlössen zur Verteidigung der alten Verfassung und zur Sicherung religiös-kirchlicher Rechte den sogenannten Sonderbund. Die Liberalen, welche mittlerweile in der Mehrzahl der Kantone zur Regierung gelangt waren, setzten auf der Tagsatzung, dem Organ für die Besorgung der Bundesangelegenheiten, die Auflösung des Sonderbundes durch. Da die Mitglieder des Sonderbundes diesem Beschluß sich nicht fügen wollten, faßte die Tagsatzung mit Stimmenmehrheit den Beschluß zur Bundesexekutive gegen die widerspenstigen Kanton. Die Aaffösnng des Sonderbundes

wurde mit militärischer Gewalt in dem ungefähr einen Monat dauernden Sonderbundskrieg von 1847 erzwungen.

Nunmehr ging die Tagsatzung daran, die ron der liberalen Mehrheit erstrebte Verstärkung der Bundesgewalt durchzuführen. Es war die große Frage, ob die Vertreter des Zentralismus ihren Sieg ausnützen würden, um die Schweiz in einen zentralistischen Einheitsstaat umzuwandeln, oder ob sie die neue, auf Verstärkung der ßundesgewalt zielende Verfassungsrevision auf den alten, organisch erwachsenen Grundlagen, wie sie in der Eigenstaatlichkeit der Kantone gegeben waren, autbauen wollten. Da war es nun von Bedeutung, daß den Schweizern für ihre Verfassungsarbeit in ihrer alten Tagsatzung ein Organ zur Verfügung stand, das nach -hrwürdi-gem altem Recht die Kantone vertrat und dem Willen ihrer Mehrheit Ausdruck lieh. Auf der Tagsatzung hatten alle Kantone ohne Rücksicht auf Größe, Einwohnerzahl und finanzielle Leistungsfähigkeit das gleiche Stimmrecht. Aber noch mehr fiel ins Gewicht, daß auch bei den Schweizer Liberalen, der Mehrheitspartei, der Sinn für geschichtlich gewordene Schweizer Art stärker war als das Parteidogma und seine zentralistischen Grundsätze. Der Schweizer, der liberale wie der konservative, besaß — und besitzt auch heute noch — ein ausgesprochenes, starkes Heimatgefühl. Dieses aber bezieht sich auf den Kanton, er wird als Heimat erfaßt; für das breite Volk bedeutet der Kanton die unmittelbare Wirklichkeit, die Heimat. Trotz allen Strebens nach Verstärkung der Bundesgewalt wollten doch auch die führenden Liberalen nicht so weit gehen, die Eigenstaatlichkeit der Kantone zu gefährden. Sie wollten nicht einen Bruch mit dem alten System, sondern seine Verjüngung und zeitgemäße Weiterbildung.

Die Schweizer Politiker ließen sich bei der Umbildung der Verfassung nicht von einem vorgefaßten, von außen her übernommenen Schema leiten, sondern von dem gesunden Hausverstand, der für den Schweizer kennzeichnend ist. Die Verfassung, wie sie in der Folge zustande kam, ist nicht in strenger staatsrechtlicher Logik aufgebaut, sondern nimmt auf die geschichtliche Erfahrung und die Mannigfaltigkeit der äußeren Lebensbedingungen in den Kantonen Bedacht. Auf kleinem Raum sind in der Schweiz viele Gegensätze vereint, die Mannigfaltigkeit der Landschaft und der durch sie gegebenen geographischen Bedingungen, sodann die Verschiedenheit von Volk und Volksart, Sprache und Konfession. Die neue Schweizer Verfassung, wie sie die Tagsatzung 1848 beschloß, hat den richtigen Weg eingeschlagen, die gegebenen Verschiedenheiten zur starken Einheit des Bundesstaates zusammenzufassen, ohne der reichen Mannigfaltigkeit des Lebens Gewalt anzutun; sie traf einen gesunden Ausgleich zwischen kantonalem Föderalismus und Zentralismus des Bundes.

Die Verfassung umschreibt genau die Zuständigkeit des Bundes. Alles, was außerhalb dieser Zuständigkeit liegt, wird von den Kantonen geregelt. Der Bund ist zur Behandlung aller jener Regierungsgeschäfte berufen, die nach ihren sachlichen Voraussetzungen am besten einheitlich geregelt werden. Dazu gehört einmal die Außenpolitik, ebenso bis zu einem gewissen Grad die Wirtschaftspolitik. Münze, Maß, Gewicht, Postwesen, Zollwesen sind Bundesangelegenheiten. Die Bundcsverfassung garantiert sodann die persönlichen Freihemrechte afler Schweizer Bürger. Änderungen der kantonalen Verfassung sind dem Bunde zur Genehmigung vorzulegen. Trotz der Verstärkung der Bundesgewalt blieb ein ansehnliches Maß von Eigenstaatlichkeit den Kantonen gewahrt. Ihre Sache blieb die Rechtspflege, die Polizeigewalt, das Gemeindewesen, das Schulwesen von der Volksschule bis zur Hochschule, der Bund behielt sich im Schulwesen nur die Aufstellung bestimmter allgemeiner Grundsätze vor sowie die Errichtung einer Universität und einer technischen Hochschule. Die öffentlichen Gewässer blieben der Hoheit des Kantons unterstellt, was heute bei der großen Bedeutung der Wasserkräfte stark ins Gewicht fällt. Auch das Forstwesen und die Gesetzgebung auf dem Gebiet von Jagd und Fischerei blieben Kantonssache.

Der alte Bundesvertrag von 1815 war mit dem Inkrafttreten der Bundesverfassung hinfällig. Die Schweiz war nun ein Bundesstaat, das heißt über die Kantone, die als Staaten bestehen blieben, trat eine neoe

Staatsgewalt mit Souveränitätscharakter, der Bund. An die Stelle der „Tagsatzung“ trat nun die Bundesversammlung, die aus zwei Kammern besteht: 1. dem Ständerat; in ihm war jeder Kanton mit zwei Mitgliedern vertreten; 2. dem Nationalst; dieser wird aus Abgeordneten des Schweizer Volkes gebildet. Auf je 20.000 Seelen der Gesamtbevölkerung wird ein Mitglied gewählt. Politisch betrachtet stellt der Nationalrat eine Vertretung des Schweizer Volkes dar, der Ständerat eine Vertretung der Kantone. Alle der Bundesversammlung zugewiesenen Geschäfte müssen im Nationalrat und im Ständerat getrennt (in gesonderter Tagung) beraten werden. Ein Bundesbeschluß hat übereinstimmende Entschließung im Ständerat und Nationalrat zur Voraussetzung. Beide Räte stehen in gleichen Rechten und Pflichten nebeneinander. Die Befürchtungen, welche die extremen Anhänger des Zentralismus im Jahre 1848 gegen die Einsetzung eines „föderalistischen“ Ständerates gehegt hatten, haben sich in der Folge als unberechtigt erwiesen, die Erwartungen, die man auf seine Arbeitsleistung und Sachlichkeit gesetzt hat, sind vollauf verwirklicht worden.

Die politischen Grundlagen, auf denen das Verfassungswerk bei uns in Österreich aufgebaut werden mußte, waren insofern die gleichen wie in der Schweiz, als es auch bei uns 1918 sich darum handelte, “die einzelnen österreichischen Länder zu einer höheren staatlichen Einheit zusammenzuschließen. Die österreichischen Länder weisen nach Natur, Volksart und Kultur eine ähnliche Mannigfaltigkeit auf wie die Schweizer Kantone. Wie sich bei den Schweizern das Heimatgefühl auf den Kanton bezieht, so bei den Österreichern auf das Land, dem der einzelne angehört. Die österreichischen Länder hatten sich im Einheitsstaat des alten Österreichs, ein erhebliches Maß von Eigenstaatlichkeit gewahrt, wenn auch nicht in solchem Umfang wie die Schweizer Kantone. Während aber die Schweizer Kantone vor 1848 immerhin im Bunde von 1815 zusammengeschlossen waren, hatten die Länder nach dem Zusammenbruch des alten Österreich 1918 die volle Unabhängigkeit und das Recht politischer Selbstbestimmung erlangt. Die Frage einer staatlichen Neuordnung trat an die Länder heran in einer Zeit größten Notstandes und allgemeiner. Verwirrung. Den österreichischen Ländern fehlte nach der Auflösung ihres bisherigen Verbandes ein Organ zur Betätigung eines Gemeinschaftswillens, wie es die Schweizer in ihrer „Tagsatzung“ besessen hatten. Eine Versammlung von Vertretern der Länder — ähnlich der Schweizer Tagsatzung — wäre berufen gewesen, unmittelbar nach dem Zusammenbruch des alten Österreich die Frage zu entscheiden, in welcher Weise sie ihre Zukunft gestalten wollten, falls man die Gründung einer neuen Ländergemeinschaft beabsichtigte. Die Umstände forderten eine rasche Entscheidung und diese erfolgte nun in Mißachtung des Selbstbestimmungsrechtes der Länder auf revolutionärem Wege.

Die deutschen Abgeordneten des altösterreichischen Reichstages, die 1911 gewählt worden waren, konstituierten sich am 21. Oktober 1918 als „provisorische Nationalversammlung für Deutsch-Österreich“, dessen Errichtung sie zur selben Zeit beschlossen. Sie nahmen für sich die Vertretung eines österreichischen Volkes in Anspruch, obwohl der Staat, dem dieses Volk angehören sollte, noch nicht bestand. Was aus dem Zusammenbruch des alten Österreich übriggeblieben war, das waren die österreichischen Länder. Ihnen allein stand das Recht zu, darüber zu entscheiden, ob und wie ein neues Österreich zu begründen sei. Die ohne Mitwirkung der Länder vollzogene Konstituierung des neuen Österreich beruhte auf der Voraussetzung, daß die Länder Österreichs nur unselbständige Verwaltungsbezirke seien, ohne Selbstbestimmungsrecht. Diese Voraussetzung war aber falsch und widersprach dem geschichtlichen Recht und dem tatsäch'ichen Bestand der politischen Länderindividualitäten.

Im Nationalrat, der die Märzverfassung von 1919 schuf, besaß die sozialdemokratische Partei die Mehrheit. Ihre Einstellung war eine zentralistische, sie wollte alle Gewalt und alle Regierungsmaßnahmen in den Händen der Zentralregierung vereinigt sehen, um jeder Gefährdung der frisch ge-backenen österreichischen Republik durch befürchtete monarchistische Anschläge zu begegnen. Die zweite große Partei des Nationalrates, die christlich-soziale, zählte zwar zu einem Großteil die föderalistischen Bauern zu ihren Wählern, sie hat aber den Föderalismus nicht mit dem nötigen Nachdruck vertreten. Von Bedeutung für die zentralistische Gestaltung der Verfassung war die Mitwirkung der Zentralbürokratie in Wien. Diese war im alten Österreich seit langem zu einem umfangreichen Apparat und zum Hauptträger des Zentralismus geworden. Die österreichische Revolution von 1848 hatte vergebens gegen den bürokratischen Zentralismus gekämpft. Je mehr dann im konstitutionellen Österreich die Volksvertretung im Reichsrat zufolge des nationalen Haders arbeitsunfähig wurde, um so stärker wurden Bedeutung und Einfluß der Zentralbürokratie. Diese übernahm auch das neue Österreich. Sein in Regierungsgeschäften noch wenig erfahrener Nationalrat war bei Ausarbeitung der Verfassung weitgehend auf die Mitarbeit der Zentralbürokratie angewiesen. Die hohe Beamtenschaft der Zentralstellen war aber aus alter Uberlieferung wie aus Gründen der Selbsterhaltung der stärkste Vertreter des Zentralismus.

Die Märzversammlung von 1919 wie jene von 1920 und ihre Novellen weisen einen streng zentralistischen Charakter auf, die Rechte der Länder wurden derart beschnitten, daß von einem Bundesstaat im normalen Sinn keine Rede sein kann. Dfe

Verfassung weist den großen Mangel auf, daß sie keine Ländervertretung vorsah, wie sie dem historischen Recht und der tatsächlichen' Vielgestalt der Länder entsprochen hätte. Sie besitzt zwar gleich der Schweizer Verfassung das Zweikammersystem; sie kennt neben dem Nationalrat als dem Vertreter des gesamten Staatsvolkes einen Bundesrat als Vertreter der Länder. Der österreichische Bundesrat unterscheidet sich aber in zwei grundlegenden Bestimmungen vom schweizerischen Ständerat. In den schweizerischen Ständerat entsendet jeder Kanton ohne Rücksicht auf Flächengröße, Volkszahl und wirtschaftliche Leistungsfähigkeit die gleiche Zahl von Vertretern. Die demokratische Forderung nach Gleichberechtigung der Individuen hat hier die folgerichtige Anwendung auf die juristische Persönlichkeit des Kantons gefunden. In Österreich ist man bei Gestaltung der Ländervertretung, des „Bundesrates“, vom demokratischen Grundsatz der Gleichberechtigung abgegangen. Die einzelnen Länder entsenden eine sehr ungleiche Zahl von Vertretern. Der zweite wesentliche Unterschied unseres Bundesrates vom schweizerischen Ständerat besteht in folgendem: In der Schweiz steht der Ständerat gleichberechtigt neben dem Nationalrat, in Österreich steht der Bundesrat, was seine Teilnahme an den Regierungsgeschäften angeht, hinter dem Nationalrat zurück.

Sosehr wir in Österreich eines soliden, dauerhaften, dem Wesen von Land und Volk angepaßten Neubaues unserer Verfassung bedürfen, so ist doch da-, eine sicher, daß die unmittelbare Gegenwart für solche Arbeit nicht die richtige Zeit ist; eine ruhigere Zeit muß hiefür abgewartet werden. Bevor Österreich nicht ein freier, souveräner Staat geworden ist, kann eine gedeihliche Arbeit an der Verfassung nicht einsetzen. Schließlich wollen wir ja doch bauen, wie es unserer Art entspricht; wir wollen bodenständig bauen und hiefür ist Bauaufsicht nicht dienlich Wir bedürfen aber auch selbst einer richtigen Baugesinnung. Da die Länder den Bund bilden, so ist es auch ihre Sache, das Zusammenleben im Bund zu regeln. So wie die Tagsatzung von 1848 dem Bund der Schweizer Kantone seine Verfassung gegeben hat, so muß auch bei uns in folgerichtiger Durchführung des Bundesgedankens eine Länderkonferenz, auf der jedes Land das gleiche Stimmrecht besitzt, die schwierige Verfassungsarbeit auf sich nehmen. Jedes Land wird für diese Tagung seine Vertreter sorgfältig auswählen müssen. Auf einer solchen Ländertagung kann der schwierige Neubau unserer Verfassung sachlicher, das heißt unabhängiger von Parteigeist, aufgeführt werden als im Nationalrat, der zudem zur Vertretung der Länderindividualitäten ungeeignet ist. Es geht nicht an, Verfassungen zu machen nach fremdem Muster.

Es wäre das letzte, was diese Ausführungen bezwecken, daß wir etwa die Schweizer Verfassung kopieren sollen. Wohl aber zeigt uns das Schweizer Verfassungswerk, in welchem Geist eine Verfassung in Anpassung an die gegebene Eigenart von Land und Volk, an die Forderungen der Gegenwart wie an ehrwürdige geschichtliche Überlieferung aufzubauen ist.

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