Seiltanz auf der "roten Linie“

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DIE Furche-Herausgeber

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Die kurze Atempause im Syrien-Drama erlaubt es uns, mit Erstaunen auf eine Welt zu blicken, die gerade jetzt - hinter aller akuten Sorge - einen enormen inneren Wandel erkennen lässt. Was wir in diesen Stunden und Tagen erleben, ist, plakativ gesagt, der Aufbruch in ein neues Amerika, ein neues Europa - und eine neue islamische Welt.

Selbstbewusstes Europa

Erinnern wir uns zurück, welch armselige Rolle die US-Demokratie bei vergangenen Kriegseinsätzen, von Vietnam bis zum Irak, dem eigenen Volkswillen eingeräumt hat. Heute aber ringt der Mann im Weißen Haus mit einem Sturm des öffentlichen Widerstandes - bestehend aus der kriegsmüden Bevölkerung, aus den großen Medien Amerikas und aus den Reihen der (auch eigenen) Kongressabgeordneten. Obama hat es vermutlich schon tausendfach bereut, jemals von einer "roten Linie“ gesprochen zu haben, hinter der er die Waffen sprechen lässt.

Zugleich verweigert ihm auch ein zunehmend selbstbewusstes Europa - mit Ausnahme der alten syrischen Kolonialmacht Frankreich - jegliche Gefolgschaft. Noch immer genervt vom Ausmaß der US-Bespitzelung bis in die Staatskanzleien, lässt die EU ihren "großen Bruder“ wissen, dass sie weder Sinn noch Ziel eines Militärschlags gegen Baschar al-Assad erkennen kann; gegen einen unerträglich gewordenen Diktator, den der Westen aber mangels Alternativen in Wahrheit gar nicht kurzfristig stürzen, sondern bestenfalls schwächen kann.

Im tragischen Dilemma zwischen US-Bombardement und einem weiteren Ausbluten-Lassen im Bürgerkrieg - beides von Chaos, Leid und Flucht begleitet - plädiert Europa unbeirrt für Nachdenken, Verhandeln und Gesten-Setzen - auch und gerade gegenüber Russland und der eben neu formierten iranischen Führung.

Traum vom arabischen Rechtsstaat

Über alle ideologischen Grenzen hinweg aber ahnen Politiker, Militärs und Bürger weltweit, welche Kollateralschäden jeder US-Schlag im derzeit völlig destabilisierten Orient wohl anrichten würde. Denn Syriens Tragödie widerspiegelt und fokussiert ja auch den großen, rebellischen Umbruch in der arabisch-islamischen Welt. Jenen historischen Zweikampf, in dem zwei geistig-politische Impulse (und oft auch parallele Sehnsüchte) miteinander ringen: zum einen das radikale Verlangen nach Demokratie und einer gerechteren Sozialordnung; zum anderen der kulturelle Konservativismus, die Ernte einer von Despotismus und Kleptokratie angetriebenen Re-Islamisierung.

Ob es am Ende gelingen wird, den Traum vom modernen arabischen Rechtsstaat mit einer letztlich religiös gefärbten Identitätspolitik zu versöhnen, bleibt abzuwarten. Jeder Windhauch von außen aber könnte dieses Kräftemessen noch schwieriger, ja chaotischer machen.

Auf die Frage "Was für eine Gesellschaft wollen wir sein?“ gibt es heute in der arabischen Welt ein schrilles Konzert von Antworten. Barack Obama wird mit seiner Entscheidung die Partitur erheblich umschreiben.

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