Serben müssen geistig genesen

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In Serbien ist ein gewaltiger Umschulungs- und Demokratisierungsprozeß nötig. Nur so gelangt die nationalistische Verblendung aus der Volksseele.

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In Serbien ist ein gewaltiger Umschulungs- und Demokratisierungsprozeß nötig. Nur so gelangt die nationalistische Verblendung aus der Volksseele.

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D er nationalistische Irrweg des serbischen Volkes und seine verheerenden Folgen sind inzwischen aller Welt bekannt. Nach Bosnien und Kosovo weiß man, welche Vorstellungen und Ideen, das serbische Volk beherrschen. Die gräßlichen Auswirkungen davon werden die Menschen noch lange beschäftigen. Der Geist, der den Balkan erschüttert hat, kann mit dem des Nationalsozialismus verglichen werden. Und auch in Serbien ist ein gewaltiger Umschulungsprozeß, der in alle Poren der Volksseele eingeht, unerläßlich, will man diesem Irrweg ernsthaft entgegentreten. Gefragt ist ein korrigiertes Welt- und Menschenbild. Die Demokratisierung muß in ähnlicher Weise wie im Nachkriegs-Deutschland ansetzen.

Die Theologie ist gefordert, den Gedanken an jegliche Auserwählung des serbischen Volkes zu bezwingen. Dieses Gerede von einer "himmlischen Nation", von einem "zweiten Jerusalem", das sich am serbischen Schicksal verwirkliche, der Gedanke von der Überhöhung des orthodoxen Gläubigen zum gottähnlichen Wesen durch die Vergöttlichung (Theosis) paßt einfach nicht in das Zeitalter der Aufklärung und der Postmoderne.

Vom Mythos reinigen Ein sachgerechter Geschichtsunterricht muß dafür sorgen, daß die Ereignisse der Vergangenheit objektiv dargestellt werden. Nur so können zahlreiche Vorstellungen, die der Guslaren-Sänger seit Jahrhunderten emotionsgeladen besingt und damit dem Volk vermittelt, an Bedeutung verlieren. Der Kosovo-Mythos, durch den eine Niederlage zu einem erhebenden und zur Rache verpflichtenden kosmischen Ereignis stilisiert worden ist, muß über kurz oder lang verschwinden. Für die Osmanen war die Schlacht am Amselfeld 1389 ein normaler Feldzug. An die glücklichen Ausgänge, sprich Siege, waren sie gewohnt und deshalb wurde dieser Sieg in ihrer Geschichtsschreibung nicht besonders hervorgehoben.

Eine gesteigerte Selbsterkenntnis wird schließlich den Serben bewußt machen, daß sie sich zu Beginn der osmanischen Zeit in Europa durchaus als loyale Untertanen des Sultans verstanden haben. Sie haben als Krieger an osmanischen Feldzügen teilgenommen und sich vieler Vorteile der neuerrichteten Herrschaft erfreut. Im besetzten Ungarn (1526-1689) wurden sie als Ratzen-Türken, also Türken aus Raszien (Serbien), bekannt.

Im Zuge ihrer geschichtlichen Aufklärung werden die serbischen Massen erfahren, daß mancher Mangel, den sie heute den Türken als Muslimen zuschreiben, gar nicht islamisch, sondern auf die damalige Machtstruktur zurückzuführen ist. Wer weiß denn überhaupt, daß der Osmanenvorstoß nach Europa nicht durch die Religion, sondern durch den genuinen Machttrieb des Staatsvolkes, der Türken, ausgelöst worden war? Macht und Ruhm der Dynastie sollten vermehrt werden; alles andere war von zweitrangiger Bedeutung. Der Islam spielte dabei die Rolle eines geistigen Filters, der dafür zu sorgen hatte, daß die Grenzen des Kriegsgeschehens nicht überschritten werden. Einem religiösen Rechtsgutachten (Fetwa) vom Ende des 15. Jahrhunderts haben die Balkan-Christen ihre Weiterexistenz zu verdanken. Der Islam hat in die anfangs ausgeübte Praxis der Knabenaushebung aus den zum Reich neuzugestoßenen Völkern (Serben, Bosniaken, Arnauten usw.) regulierend und mäßigend gewirkt. Knaben im beinahe militärpflichtigen Alter - zwischen acht und 16 Jahren - wurden ausgemustert. Die Korrekturliste der unbegründeten Vorurteile ließe sich weiter bis ins schier Unendliche verlängern.

Ganz wesentlich für die geistige Genesung des serbischen Volkes wird die Neugestaltung der Schulbücher im Sinne der demokratischen Erwartungen sein. Es muß ein ausgewogener und objektiver Informationsstand angestrebt werden. Die tendenziöse und die heroisch-epische Literatur, wie der berühmt-berüchtigte "Bergkranz" von Petar Petrovic' Njegos, darf nicht mehr im Schulprogramm vorkommen. Ebenso alle anderen Schriften, die der Volksverhetzung Vorschub leisten. Ein besonderes Kapitel sind dabei die Massenmedien, die sich in den vergangenen zehn Jahren durch falsche und volksverhetzende Informationsarbeit mit einer schweren Schuld beladen haben. Die Informationspolitik muß von Verantwortung und professioneller Ethik getragen werden.

Kein geringerer als der Philosoph Karl Popper hatte das Eingreifen der zivilisierten Welt verlangt, um den Völkermord am Balkan zu beenden. "Um den Frieden zu erhalten, muß man bereit sein, militärisch vorzugehen", sagte er schon in einem Interview am 16. Mai 1993. Inzwischen ist die von Popper als unerläßlich angesehene Intervention des militärischen Humanismus in erwarteter Weise durchgeführt worden und die Bedrückten können frei aufatmen. Leider war dem Spuk nicht anders beizukommen.

Serbiens Demokraten Doch solange die alte Führungsgarnitur an der Macht in Belgrad sitzt, ist es freilich fraglich, ob die Verwirklichung des besagten Umschulungsprojekts möglich ist.

Daß es aber in Serbien unzählige human denkende und demokratisch gesinnte Kräfte gibt, steht außer Zweifel. Man denke allein an den ehemaligen Bürgermeister von Belgrad, Bogdan Bogdanovic', der von allem Anfang an mutig seine Landsleute vor dem verderblichen Nationalismus gewarnt hat, an den Schriftsteller Mirko Kovac, den beharrlichen Kämpfer um die Menschlichkeit, an Vesna Pesic', Verfechterin der Versöhnung und viele andere.

Die außergewöhnliche Dichte der kulturellen Begegnungen und die Vielfalt der politischen und sozialen Konflikte hat im Zuge langer Wirren Europa eine konstante Identität verliehen, in der man gerne zu Hause ist. Heute ist Europa eine Heimstatt teuer erkaufter zwischenmenschlicher Erfahrungen, die ein friedliches Leben versprechen. Für so eine Identität lohnt es sich einzutreten. Aber die Identität - kollektive oder persönliche - ist nicht als ein Wert an sich anzusehen, zumal, wenn sie sich etwa nur in der Negation, in der Ablehnung des anderen äußert. Diese Negation ist aber - wie die zeitgenössische Soziologie lehrt - ein wesentliches Merkmal zur Herausbildung von Identität. Und daher kommt es auch immer wieder zur Schaffung von Feindbildern, seien diese bloß fiktiv oder wirklichkeitsbezogen.

Dialog über Bosheit In einer Zeit der zunehmenden Globalisierung von menschlichen Handlungen entsteht freilich auch die Frage, inwieweit eine lokale oder regionale Identität dazu berufen ist, eine besondere Rolle zu spielen. Es unterliegt keinem Zweifel, daß der Reifungsprozeß der Menschheit hier seinen Höhepunkt erreicht hat. Europa kann und soll daher gewissermaßen als das Piemont der geistigen Reife in alle Welt ausstrahlen. Das verleiht diesem Kontinent eine Sonderstellung in der Welt, bringt aber auch eine besondere Bürde mit sich. Europa ist berufen, durch sein Beispiel eine Vorreiterrolle zu spielen. Namentlich in der Sache des Friedens. Dabei sind die positiven Kräfte zu ermuntern und zu aktivieren. Das Gute muß deutlich sichtbar werden. Doch ebenso muß das Böse ins Auge gefaßt werden. Daher wäre neben der Fortführung von Friedensgesprächen unbedingt die Eröffnung eines Dialogs über die vielschichtige Bosheit der Menschen und deren Überwindung notwendig.

In Europa wie in anderen Kontinenten sollte der aus der religiösen Tradition stammende Grundsatz von der Grundgleichheit der Menschen beherzigt werden. "Ich habe euch zu Völkern und Stämmen gemacht", lautet diese Tradition, "damit ihr euch auseinanderkennt: der edelste unter euch ist bei Gott derjenige, der sich am besten selbstbeherrscht" (Koran 49:13). Die Selbstbeherrschung ist der erste Schritt zur Kultur (Gustave Le Bon). Das kann man von Europa heute lernen.

Der Autor gebürtiger bosnischer Muslim, ist Kulturhistoriker und Islamexperte (u.a. war er Chefredakteur von "Islam und der Westen"). Balic lebt in Niederösterreich. Den hier abgedruckten Vortrag hielt er anläßlich der kürzlich abgehaltenen Wiener Friedensgespräche.

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