So tickt Europa: von Estland bis Türkei

Werbung
Werbung
Werbung

Das "Eurobarometer" misst die europäischen Stimmungen - seit mehr als 30 Jahren und mittlerweile in 29 Ländern. von heike Hausensteiner

Der Europäischen Union kann man einiges vorwerfen. Doch an das Friedensprojekt haben sich trotz aller Kritik die meisten Bürger gewöhnt: Friede, Demokratie und Menschenrechte sind jene Werte, die am häufigsten mit der Europäischen Union assoziiert werden. Das belegt neuerlich die Mitte Dezember 2006 präsentierte Eurobarometer-Umfrage, die in der EU 25, in Bulgarien und Rumänien sowie in Kroatien und der Türkei durchgeführt wurde.

Den Standpunkt der Bevölkerung zu Europa und zur EU erhebt die Europäische Kommission seit 1974 mit dem "Eurobarometer" zweimal pro Jahr (Frühjahr, Herbst) in allen Mitglieds-und Kandidatenländern gleichzeitig. Die Längsschnitterhebungen der Befragung offenbaren, dass die Einstellungen der Bürger über die vergangenen drei Jahrzehnte konstant verlaufen. Bei den Werten und Assoziationen, die die Befragten (Über-15-Jährige) mit Europa verbinden, ist Kontinuität bei gleichzeitiger Akzentverschiebung auszumachen.

Nr. 1: EU als Friedensprojekt

Friede ist denn auch für die Österreicher der bedeutsamste Wert (56 Prozent). Es folgen die persönliche Freiheit (46), die Menschenrechte (37), Respekt für menschliches Leben (35), Demokratie (27) und Gleichberechtigung (19). Weniger bedeuten den Österreichern offensichtlich Toleranz (15), Solidarität und Selbstverwirklichung (jeweils 11), Rechtsstaatlichkeit (7) und Religion (6 Prozent). Im EU-Vergleich ergibt sich ein ähnliches Bild.

Weniger einheitlich nehmen die Länder der EU 27 die Rolle des Staates wahr. In gesellschaftspolitischen Bereichen übe der Staat generell zu großen Einfluss auf ihr Leben aus, meinen fast zwei Drittel (62 Prozent) der Österreicher (wie auch der EU-Bürger). Am größten ist die Kritik in Schweden, Ungarn, Slowenien (je 73 Prozent). Am wenigsten gesellschaftspolitisch beeinflusst gibt sich die Bevölkerung im hohen Norden, und zwar in Finnland, Lettland und Estland (57 bis 66 Prozent). Nur rund jeder Zweite in den jüngsten Mitgliedsländern Bulgarien (pro: 43, contra: 49 Prozent) und Rumänien (47 versus 40 Prozent) fühlt sich durch den Staat auf den Schlips getreten.

Mehr Wettbewerb erwünscht

Noch deutlicher unterstützen die EU-Bürger den freien wirtschaftlichen Wettbewerb. "Freier Wettbewerb ist die beste Garantie für wirtschaftlichen Wohlstand." Dafür sprechen sich mittlerweile fast drei Viertel (72 Prozent) der Österreicher aus (EU: 64 Prozent). Die größten Anhänger des freien Wettbewerbs sind die ex-kommunistischen EU-Länder Slowenien, Estland und Lettland (je rund 80 Prozent). Am meisten abgelehnt wird der freie Wettbewerb in Griechenland, Frankreich und Portugal (je rund 40 Prozent).

Fundamentaler sind die Mentalitätsunterschiede in diversen Toleranzfragen. Gegen zu viel Toleranz und für härtere Strafen Kriminellen gegenüber sprechen sich inzwischen 79 Prozent der Österreicher aus. Die gesamte EU und zuvorderst die jüngeren Mitgliedsstaaten unterstützen eine Law-and-order-Politik in dieser Frage noch deutlicher (85 Prozent). Für ein härteres Vorgehen gegen Straftäter sind fast alle Befragten in der Slowakei, Tschechien und Zypern (93 bis 97 Prozent); rund 90 Prozent sind es in Rumänien und Bulgarien.

Während sich die EU damit abmüht, ihre Grenzen immer dichter zu machen, werden die Wege der Flüchtlinge, den reichen Kontinent zu erreichen, immer gefährlicher. Was die Zuwanderung betrifft, gibt es in den Mitgliedsländern teilweise eklatante Meinungsunterschiede. In Österreich wie im EU-Durchschnitt finden rund 40 Prozent, das Land profitiere von den Zuwanderern. Die positivste Meinung in dieser Frage haben Schweden (79), Portugal (66), Irland und Luxemburg (je 56 Prozent). Am kritischsten sind die neueren Mitgliedsländer: In der Slowakei glauben 84 Prozent nicht, dass die Zuwanderer ihrem Land etwas bringen könnten; es folgen Tschechien (81) und Lettland (76 Prozent). Kritisch sind auch die Bulgaren (pro: 23, contra: 52 Prozent), während sich die Rumänen als relativ tolerant erweisen (pro: 43, contra: 27 Prozent).

Das Eurobarometer befragte im Herbst letzten Jahres die Europäer erstmals auch zu den homosexuellen Partnerschaften. Für gleichgeschlechtliche Ehen und deren Legalisierung in ganz Europa spricht sich in Österreich eine knappe Mehrheit aus (pro: 49, contra: 45 Prozent). Das Land ist in dieser Frage etwas liberaler eingestellt, als es die 27 Mitgliedsländer insgesamt sind (im Schnitt 44 pro, 49 Prozent contra).

Streitpunkt Homo-Ehen

Am liberalsten sind die Niederlande (82) sowie Schweden und Dänemark (je rund 70 Prozent). Kategorisch abgelehnt werden gleichgeschlechtliche Ehen in Zypern, Griechenland und Lettland (je rund 80 Prozent); Rumänien und Bulgarien sind ebenfalls dagegen (79 bzw. 65 Prozent).

Relativ restriktiv sind die Europäer in der Drogenpolitik. Beispielsweise die europaweite Legalisierung des privaten Konsums von Cannabis lehnen zwei Drittel der Österreicher sowie der EU-Bürger ab (68 Prozent). Den liberalsten Standpunkt vertreten die Niederlande (49 pro, 47 Prozent contra); es folgen Großbritannien, Tschechien und Spanien (32-40 Prozent). Die größten Gegner sind Ungarn, Finnland und Schweden (85-90 Prozent). Rumänien und Bulgarien sind ebenfalls klar dagegen (81 bzw. 72 Prozent).

Was die Arbeitsmentalität betrifft, scheint die Bevölkerung der EU 27 zwischen "dolce far niente" und fleißigen Bienen zu pendeln. Die Hälfte der Österreicher ist der Ansicht, "Freizeit sollte wichtiger sein als Arbeit" (51 versus 42 Prozent). Mit dieser mehrheitlich positiven Stimmung zur "work-life-balance" liegt Österreich etwas über dem EU-Schnitt (48 versus 45 Prozent). Sogar für mehr als zwei Drittel der Befragten in Griechenland, Zypern und Estland (66-69 Prozent) hat die Freizeit Vorrang vor der Arbeit. Der Aussage widersprechen im umgekehrten Ausmaß die Befragten in Litauen, Luxemburg und Deutschland (60-67 Prozent). Auch in Rumänien und Bulgarien ist die Arbeit wichtiger als die Freizeit (rund 55 Prozent). Unter allen befragten Ländern toppt in dieser Frage die Türkei das Ergebnis: Für drei Viertel der Türken (75 Prozent) hat die Arbeit mehr Bedeutung als Freizeit.

Arbeit wichtiger als Freizeit

Die Türkei ist in der Geschichte der Europäischen Gemeinschaften das umstrittenste Beitrittskandidatenland. Einer der Hauptkritikpunkte: Das laut Verfassung laizistische Land ist muslimisch geprägt. Doch wenn man unabhängig von dieser Einzelfrage die Bevölkerung in der EU generell zum Thema Religion befragt, wird dieser allgemein kein besonders hoher Stellenwert eingeräumt. Während sie für lediglich sechs Prozent der Österreicher ein persönlich wichtiger Wert ist, hält fast die Hälfte (44 Prozent) den Stellenwert der Religion in der Gesellschaft für zu groß; ebenfalls die Hälfte (51 Prozent) ist gegenteiliger Ansicht (EU: 46 versus 48). Unter den 27 EU-Ländern sind die größten Kritiker in dieser Frage Italien, Malta und Zypern (63-81 Prozent). Dieses Ergebnis wird von der Türkei noch übertroffen: 86 Prozent der befragten Türken stoßen sich an der Religion. Am nüchternsten sehen die Frage die Finnen, Esten und Tschechen, die keinen zu großen Einfluss der Religion ausmachen können (68-74 Prozent).

Misstrauen: Kirche & Partei

Schließlich vertraut nicht ganz die Hälfte der Österreicher (42, EU: 46 Prozent) den religiösen Institutionen; diese nehmen damit den drittletzten Rang, nur mehr vor den großen Konzernen und politischen Parteien ein. EU-weit erreichen Kirchen die höchste Vertrauensquote in Rumänien (76 Prozent); Bulgarien liegt annähernd im EU-Mittelfeld, was das Misstrauen betrifft (pro: 32, contra: 48 Prozent).

An fünfter Stelle unter den 15 abgefragten Institutionen liegen in Österreich die Wohltätigkeits-bzw. ehrenamtlichen Organisationen (66 Prozent). Es folgen die Justiz (vierter Platz) das Radio (3.) und das Bundesheer (2. Stelle - alle drei rund 70 Prozent), wobei im EU-Schnitt das Vertrauen in das Rechtssystem wesentlich schlechter (45 Prozent) abschneidet. Das größte Vertrauen genießt in der Alpenrepublik aber nach wie vor und unangefochten (74, EU: 64 Prozent) die Polizei.

Die Autorin ist Verfasserin des Eurobarometer-Länderberichts für Österreich.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung