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Sorgenkind: Krankenversicherung

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Der Aufwand und die Kostendeckung der Krankenkassen bilden seit getaumer Zeit das Sorgenkind der modernen Sozialversicherung. Die Krise, die auch eine Vertrauenskrise der Versicherungsnehmer ist, ist nicht auf Oesterreich beschränkt, sondern über ganz Europa verbreitet. Die gesetzlichen Pflichtleistungen, die das ASVG seit kurzem vorschreibt, haben nun die Krise in Oesterreich akut weiden lassen. Eine gründliche Reform des Aufkommens oder der Leistungsbemessung — vielleicht auch beider — ist notwendig geworden. Sie wird weniger durch beifallheischende Schlagworte, als vielmehr durch emste Aussprachen von Fachleuten zustande kommen. Diesem Ziele dient die neue große Enquete der „Furche“. Der heutige erste Beitrag legt im großen und ganzen den Standpunkt des Versicherungsträgers dar, reicht aber in seiner tiefen und weiten Umschau darüber hinaus. Ihm werden in den nächsten Wochen Darstellungen anderer Interessierter, vor allem der Aerzte und Spitäler, folgen. „Die Furche“

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Der Aufwand und die Kostendeckung der Krankenkassen bilden seit getaumer Zeit das Sorgenkind der modernen Sozialversicherung. Die Krise, die auch eine Vertrauenskrise der Versicherungsnehmer ist, ist nicht auf Oesterreich beschränkt, sondern über ganz Europa verbreitet. Die gesetzlichen Pflichtleistungen, die das ASVG seit kurzem vorschreibt, haben nun die Krise in Oesterreich akut weiden lassen. Eine gründliche Reform des Aufkommens oder der Leistungsbemessung — vielleicht auch beider — ist notwendig geworden. Sie wird weniger durch beifallheischende Schlagworte, als vielmehr durch emste Aussprachen von Fachleuten zustande kommen. Diesem Ziele dient die neue große Enquete der „Furche“. Der heutige erste Beitrag legt im großen und ganzen den Standpunkt des Versicherungsträgers dar, reicht aber in seiner tiefen und weiten Umschau darüber hinaus. Ihm werden in den nächsten Wochen Darstellungen anderer Interessierter, vor allem der Aerzte und Spitäler, folgen. „Die Furche“

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Auf dem Arbeitsprogramm der Koalition stehen einige wesentliche offene Fragen, an deren Lösung breite Bevölkerungskreise interessiert sind. Das seit Jahren umstrittene Landwirtschaftsgesetz geht Produzenten und Konsumenten in gleicher Weise an. Die ungelösten Schulfragen bereiten Eltern und Erziehern nicht geringere Sorgen wie den Schulerhaltern. Eine weitere offene Frage ist die Sanierung der Krankenkassen, und es wäre sachlich unrichtig, etwa zu glauben, dieses Problem berühre eigentlich nur die Interessen der direkt Betroffenen, also der Versicherten. Das trifft schon deshalb nicht zu, weil die Beiträge von Arbeitgebern und Arbeitnehmern gemeinsam aufgebracht werden. Schon aus diesem Grunde müssen auch die Dienstgeber an der finanziellen Lage der Krankenkassen interessiert sein. Außerdem bilden die Beiträge einen Unkostenfaktor, der sich naturgemäß auf die Produktionskosten auswirkt.

In Oesterreich gibt es neun Gebietskrankenkassen, neun Landwirtschaftskrankenkassen, zehn Betriebskrankenkassen, ferner die Versicherungsanstalt des österreichischen Bergbaues und die Versicherungsanstalt der österreichischen Eisenbahnen. Bei diesen Krankenkassen sind die Leistungen nach den Bestimmungen des Allgemeinen Sozialversicherungsgesetzes zu erbringen. Sondervorschriften bestehen für die Meisterkrankenkassen und die Krankenversicherungsanstalt der Bundesangestellten. In der Krankenversicherung besteht die Selbstverwaltung. Jede Kasse hat einen Vorstand und einen Ueberwachungsausschuß. In ersterem haben die Arbeitnehmer, in letzterem die Arbeitgeber die Mehrheit.

Das ist ein weiterer Grund dafür, daß Arbeitgeber und Arbeitnehmer an der Wirtschaftslage der Krankenversicherung interessiert sein müssen. Daneben gibt es noch andere Interessierte, nämlich Berufsgruppen, deren Existenz direkt oder indirekt von der Krankenversicherung abhängt. Es sind dies vornehmlich Aerzte, Zahn-äizte, Dentisten, Hebammen, Apotheker, Banda-gisten, Orthopäden und Heilmittelerzeuger. Außerdem wird durch die Krankenversicherung die finanzielle Lage der Krankenhäuser, Kuranstalten und Genesungsheime wesentlich beeinflußt. Schon diese knappe Darstellung zeigt, daß die Krankenkassen sowohl im wirtschaftlichen als auch im sozialen Geschehen von nicht zu unterschätzender Bedeutung sind.

In dem Bestreben, möglichst breiten Kreisen der Bevölkerung einen weitgehenden Schutz für die Wechselfälle des Lebens zu sichern, wurde die Sozialversicherung — die Krankenversicherung ist nur ein Teil derselben — in den letzten Jahrzehnten immer weiter ausgebaut. Aus bescheidenen Anfängen heraus hat sich die Krankenversicherung weiter fortentwickelt. So kam es, daß der Gesetzgeber den Krankenkassen immer neue Aufgaben übertrug, ohne allerdings auf die finanziellen Auswirkungen bedacht zu sein. Mit anderen Worten heißt das also, daß man den sozialen Schutz ausgedehnt und verbessert hat, ohne jedoch gleichzeitig auf die damit verbundenen höheren Ausgaben Rücksicht zu nehmen. Dadurch kamen die Krankenkassen langsam aber sicher in eine schwere finanzielle Krise. Mit den gleichen Sorgen hat man übrigens auch in anderen Staaten zu kämpfen. So befindet sich beispielsweise die deutsche Krankenversicherung in keiner besseren Situation als die österreichische, und in der deutschen Bundesrepublik ist seit Jahren eine lebhafte Diskussion darüber im Gange, wie der finanzielle Notstand der Krankenversicherung überwunden werden könnte.

Wenden wir uns nun der besonderen Lage der österreichischen Krankenversicherung zu. Das im September 195 5 vom Parlament beschlossene Allgemeine Sezialversicherungsgesetz brachte für Versicherte und vornehmlich für die Rentenbezieher sehr bedeutende Leistungsverbesserungen, und zwar in der Weise, daß b:s dahin bestandene satzungsmäßige Leistungen bzw. Mehrleistungen in gesetzliche Pflichtleistungen umgewandelt wurden. Das bedeutete selbstverständlich für die Krankenkassen zusätzliche finanzielle Lasten bei gleichen Beiträgen. Die Einnahmen der Krankenversicherung sind im wesentlichen durch das Gesetz ebenso festgelegt wie die zu erbringenden Leistungen. Das schließt also eine elastische Gebarung aus, und es ist daher nicht möglich, daß die Krankenkassen Leistungen von sich aus einschränken oder die Beiträge über die gesetzliche Höhe hinaus festsetzen, denn damit würden sie sich einer Gesetzesverletzung schuldig machen.

Die ungesunde finanzielle Lage der Krankenversicherung hat verschiedene Ursachen. Einmal ist es die Uebertragung von Aufgaben ohne entsprechende Kostendeckung. So müssen beispielsweise die Krankenkassen die Krankenversicherung der Rentner durchführen, deren Beiträge die tatsächlich erwachsenden Kosten aber nur zu einem kleinen Teil decken. Für die Familienangehörigen werden Beiträge zur Krankenversicherung überhaupt nicht entrichtet, obwohl sie im Krankheitsfall ärztliche Hilfe und Medikamente erhalten und gegebenenfalls achtzig Prozent der Spitalskosten von den Krankenkassen getragen werden. Eine weitere Ursache liegt in der Verteuerung der Medizin, bedingt durch die Fortschritte auf dem Gebiet der Diagnose, der Therapie, der Krankheitsverhütung usw. Dazu kommt ferner, daß es bei den Versicherten kaum noch ein Gefühl der Verantwortung gegenüber der Versichertengemeinschaft gibt. Das Wort von der „Melkkuh“ hat zweifellos eine gewisse Berechtigung. Zwei Dinge, die für die finanzielle Situation der Krankenversicherung sehr wesentlich sind, werden vielfach übersehen: die geänderte Altersstruktur der Bevölkerung und die ständig zunehmende Zahl von Verkehrs- und Sportunfällen.

Und nun sollen einmal die Zahlen sprechen: Die Zahl der im Berufsleben stehenden Arbeiter und Angestellten, also der voll beitragspflichtigen Personen, beträgt rund zwei Millionen. Dazu kommen 1,4 Millionen von den Krankenkassen zu Betreuende, die keine Beiträge leisten. Im wesentlichen handelt es sich hier um die Familienangehörigen. Und schließlich ist noch eine dritte Gruppe da, nämlich die rund 90O.0PO zu betreuenden Rentner, Pensionisten und Kriegsopfer. Das heißt also, daß die Zahl jener, die volle Beiträge entrichten, von den keine oder nur geringe Versicherungsbeiträge leistenden Personen weit überflügelt wird. Man kann es auch anders ausdrücken: die guten Risken sind kleiner als die schlechten Risken.

Deutlicher als alle Argumente vermitteln nachstehende Ziffern ein Bild über die finanzielle Lage der Krankenversicherung. Das Jahr 1955 wurde deshalb als Ausgangsbasis gewählt, weil mit 1. Jänner 1956 das Allgemeine Sozialversicherungsgesetz in Kraft trat, das wesentliche Veränderungen brachte.

1955 1956 1857 1958

1. Halb].

Einnahmen 2239,9 2631.8 2883,9 1467,0

Ausgaben 2272,6 2615,1 2978,1 1556,1

Die wesentlichsten

Ausgabenposten waren:

Krankengeld 483,2 565,8 655,6 311,9 Aerztliche' Hilfe 458,2 530,1 633,3 325,1 Spitalskosten 441,9 463,0 497,0 264,6 Medikamente 321,6 372,8 416,9 224,4 Zahnbehandlung 152,4 171,6 194,1 135,6 Mutterschaftsleistungen 103,0 140,4 164,7 88,2 'Verwaltungsausgaben 120,9 147,0 171.8 84.3

Vorstehende Ziffern zeigen, daß im ersten Halbjahr 195 8 die Ausgaben um rund 90 Millionen Schilling höher waren als die Einnahmen. Dazu kommt, daß die Krankenkassen, weil sie ja zur Erbringung der Leistungen verpflichtet sind, bei den Pensionsversicherungsträgern, für die sie die Beiträge einheben, erhebliche Schulden haben. Ende Juli betrugen die Rückstände der Krankenkassen an nicht überwiesenen Beiträgen 206 Millionen Schilling!

■ Gibt es nun einen Ausweg aus dieser Krise? Manche Kreise machen es sich dadurch sehr leicht, daß sie sagen, der Finanzminister soll zahlen! Andere wieder meinen, daß die Kassen von sich aus Reformen und Sparmaßnahmen durchführen müßten. Dazu ein ganz offenes Wort. Im Gegensatz zur Pensionsversicherung erhalten die Krankenkassen keinen Staatszuschuß, und sie haben einen solchen auch nicht gefordert; sie verlangen aber, daß der Gesetzgeber jene Dinge in Ordnung bringt, die eine gesunde finanzielle Gebarung ermöglichen würden. Es sei nochmals darauf hingewiesen, daß die Verpflichtungen der Krankenkassen ebenso im wesentlichen gesetzlich verankert sind wie die Beitragseinnahmen.

Zweifellos muß auch die Zusammenarbeit zwischen den Kassen und den verschiedenen Vertragspartnern neu gestaltet werden. Heute ist es so, daß der Arzt nicht nach seiner Leistung honoriert wird, sondern nach der Zahl der gesammelten Krankenscheine. Für den Arzt ein ungesunder und entwürdigender Zustand. Der

Kassenpatient hat bei dem heutigen System an einem sparsamen Medikamentenverbrauch ebensowenig Interesse wie etwa der Arzt an der Verschreibung eines billigen, aber in der Heilwirkung ebenso wertvollen Präparats. Die Einhebung einer einheitlichen Medikamentengebühr von zwei Schilling für das billige wie für das teuere Präparat muß überprüft werden. Ueberlegt werden müßte auch, ob nicht eine echte Koste'ribetei 1T-gung der Versicherten an den ärztlichen Kosten zweckmäßig wäre, wobei man natürlich Ausnahmen für Rentner, kinderreiche Familien, bei Epidemien und bei länger dauernden Krankheitsfällen machen müßte.

Schließlich wird man einen Weg finden müssen, um die Diskrepanz zwischen den Krankenversicherungsbeiträgen der Rentner und den tatsächlichen Kosten zu überwinden. Weil nun die Krankenkassen auf familienpolitischem Gebiet ihre Leistungen wesentlich verbessert haben, wird zu überlegen sein, ob nicht den Kassen der dadurch entstandene Mehraufwand aus den Mitteln des Familienlastenausgleiches ersetzt werden könnte.

Bei den Krankenkassen liegen Forderungen der Aerzte und Spitalserh alter auf Abänderung der bestehenden Verträge vor. Das würde höhere Ausgaben und damit ein noch größeres Defizit bedeuten. Die Krankenkassen bestreiten keineswegs die Berechtigung der angemeldeten Forderungen, erklären aber, daß bei der jetzigen Finanzlage eine Erfüllung noch so berechtigter Wünsche einfach nicht zu verantworten wäre. Für die Vertragspartner sind solche Erklärungen verständlicherweise unbefriedigend.

Zusammenfassend läßt sich also sagen, daß eine Sanierung der Krankenkassen unvermeidlich ist, wobei die zu treffenden Maßnahmen auf verschiedenen Gebieten liegen müssen. Manches wird auf der Ebene der Gesetzgebung zu regeln sein, aber eine Neuordnung im Verhältnis der Kassen zu den Vertragspartnern ist ebenso notwendig wie eine stärkere Betonung des Versicherungsgedankens und die Wiedererweckung der s o z i a-len-Verantwortung gegenüber der Versichertengemeinschaft. Niemand kann an einen Abbau des sozialen Schutzes denken, wohl aber müssen alle direkt oder indirekt an einer gesunden Gebarung der Krankenversicherung Interessierten gemeinsam überlegen, wie jenes Gleichgewicht hergestellt werden kann, das ein Höchstmaß an sozialer Sicherheit für die von den Krankenkassen zu betreuenden Menschen — mehr als zwei Drittel der österreichischen Bevölkerung — garantiert.

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