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Sorgenkind: Krankenversicherung

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Mitten in die große Enquete der „Furche“ über die Krise der österreichischen Krankenversicherung, die in der Folge 39 mit Nationalrat Erwin Machunzes Beitrag begonnen hat, platzten in diesen Tagen wie Bomben die Nachricht von der Kündigung der Verträge mit den Zahnärzten und Dentisten durch die Krankenversicherungsträger, und gleich alarmierend die Mitteilung des Hauptverbandes der österreichischen Sozialversicherungsträger von der Verdreifachung des Gebarungsabganges trotz Verwaltungseinsparungen im ersten Halbjahr 1958 (1957: 31,9 Millionen, 1958: 100,5 Millionen Schilling!), Unsere Diskussion wird heute mit der Erörterung des Standpunktes der Aerzte fortgesetzt, der mit Rücksicht auf die oben genannten Vorfälle besondere Aktualität zukommt. „Die Furche“

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Mitten in die große Enquete der „Furche“ über die Krise der österreichischen Krankenversicherung, die in der Folge 39 mit Nationalrat Erwin Machunzes Beitrag begonnen hat, platzten in diesen Tagen wie Bomben die Nachricht von der Kündigung der Verträge mit den Zahnärzten und Dentisten durch die Krankenversicherungsträger, und gleich alarmierend die Mitteilung des Hauptverbandes der österreichischen Sozialversicherungsträger von der Verdreifachung des Gebarungsabganges trotz Verwaltungseinsparungen im ersten Halbjahr 1958 (1957: 31,9 Millionen, 1958: 100,5 Millionen Schilling!), Unsere Diskussion wird heute mit der Erörterung des Standpunktes der Aerzte fortgesetzt, der mit Rücksicht auf die oben genannten Vorfälle besondere Aktualität zukommt. „Die Furche“

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II. Weniger Fürsorge, mehr Versicherung!

Von Dr. jur. WALTER U R B A R Z, Kammeramtsdirektor der Oesterreichischen Aerztekammer

Es ist sehr zu begrüßen, daß die „Furche“ im Rahmen einer Artikelreihe zu dem Problem der Krise und Sanierung der österreichischen Krankenkassen Stellungnahmen über die verschiedenen Standpunkte veröffentlicht. Obwohl natürlich nur die persönliche Auffassung des einzelnen Verfassers zum Ausdruck gebracht wird, so bedeutet doch deren gute Kenntnis der Materie die Gewähr dafür, daß bei dem Bemühen um eine sachliche Lösung dieses schwierigen Problems die gegebenen Tatsachen entsprechend berücksichtigt und nicht zum Beispiel nur politische Ueberlegungen zum Ausdruck gebracht werden.

Das Problem der Beendigung der Krise und der Durchführung der Sanierung der österreichischen Krankenkassen ist in keiner Weise nur ein finanzielles. Es wäre sicherlich vollkommen verfehlt und ließe wesentliche Komponenten dieser bestehenden Krise völlig außer Betracht, wenn man nur durch das Freimachen zusätzlicher finanzieller Mittel für die Krankenkassen deren Schwierigkeiten lösen wollte.

Die erste gesetzliche Basis der österreichischen Krankenversicherung wurde am 30. März vor 70 Jahren beschlossen. Eine wesentliche Veränderung des maßgeblichen Konzepts ist seither nicht erfolgt. Das bedeutet, in die Praxis übersetzt, daß die Grundregeln für die Bewältigung der Fragen der österreichischen Krankenversicherung mindestens 70 Jahre alt sind. Dies allein muß schon bedenklich stimmen, da es ja bei der Durchführung der Krankenversicherung1- ausschließlich-!da.Mtm ehfr, die Probleme • deiAHtsfes, 'ausgelöst“'durch die Erkrankung eines Menschen, zu beseitigen und nicht etwa die ehernen Grundsätze einer Verfassung oder eines Staatsgrundgesetzes zu verteidigen.

Die Probleme der Krankenversicherung im Jahre 1958 sind nicht die des Jahres 1888. Es ist aber zu erwarten, daß die Regelung, die in unserer Zeit im Interesse der österreichischen Krankenversicherung getroffen werden muß, in die künftigen Jahre und Jahrzehnte weiterwirken wird und damit nicht nvr den Anforderungen der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts gerecht werden soll, sondern vielleicht auch in das nächste Jahrhundert hineinreichen wird. Um so größer ist daher die Verantwortung für jede Regelung, die getroffen wird, denn es ist dieser Materie eigentümlich, daß sich viele Fehler oft nicht in vollem Umfang erkennen lassen, aber nach einem langsamen und unabänderlichen Gesetz zerstörend wirken.

Der Grundfehler und die entscheidende Wunde, die der österreichischen Krankenversicherung in den zurückliegenden Jahren und Jahrzehnten zugefügt wurde, liegt im völligen Verlassen des Versicherungsgedankens. Bei einer Versicherung hat die Prämie dem übernommenen Risiko finanziell Rechnung zu tragen und die eingehobenen Beiträge stehen in einem mathematisch exakt berechneten Verhältnis zu den übernommenen Leistungsverpflichtungen. Die finanzielle Basis unserer Krankenkassen ist aber in der Grundrechnung 70 Jahre alt, und die stürmische Entwicklung der modernen Medizin, das unerhörte Ansteigen der Lebenserwartung unserer Bevölkerung, die Ausdehnung der Versicherung auf alle Familienangehörigen, die große Erweiterung der Leistungen, die Betreuung der Rentner blieben mit ihrer zwangsläufigen finanziellen Auswirkung weitgehend unberücksichtigt. Die natürliche Folge war eine betonte Zurückhaltung der Krankenkassen besonders in den letzten Jahren in der Honorargestaltung zu ihren Vertragspartnern. Wir müssen heute feststellen, daß nach den amtlichen Veröffentlichungen der Index der Löhne und Preise über dem Achtfachen des Jahres 1945 liegt, während das Honorar des Vertragsarztes für die gleiche Leistung des Jahres 1958 gegenüber dem Jahre 1945 bei der größten Kasse nur kaum das 5,2fache erreicht hat. Das Ergebnis dieser langjährigen unbefriedigenden

Honorarkämpfe mußte natürlich in vielen Fällen zu einer Unzufriedenheit der Vertragspartner der Krankenkassen führen; diese Verstimmung belastete und belastet mit allen sich daraus ergebenden, in der Natur des Menschen gelegenen Konsequenzen die Beziehungen zu den meisten Krankenkassen. Häufig mußte auch festgestellt werden, daß eine fehlgeleitete Investitionspolitik mancher Krankenkassen zu einer Bindung großer Versicherungsbeträge in Form unrentabler eigener Ambulatorien, Spitäler, Kur- und Erholungseinrichtungen führte und die finanzielle Situation und die Liquidität der Kassen im Verlaufe der Jahre wesentlich verschärfte und einschränkte. Die Bildung großer Kassen brachte eine Unübersichtlichkeit des Apparates, wodurch die Rentabilität natürlich zu leiden hatte.

Das Abgehen vom Versicherungsgedanken war durch eine Grundhaltung bedingt, die das Ideengut der W o h 1 f ah rts- und Fürsorgeregelung als Basis hatte. Unter der Parole „Soziale Sicherheit“ sollte auf dem Sektor der Krankenkassen dem Versicherten und seinen Familienangehörigen jeder Schutz im Erkrankungsfalle gewährt werden. Die lähmende Wirkung des Wohlfahrts- und Fürsorgeprinzips in der Praxis auf die eigene Initiative, Tatkraft und das Verantwortungsgefühl des Menschen und alle ihre schädlichen Folgen haben die bisherigen Experimente mit Regelungen dieser Art bewiesen. Sie mußten alle versagen, wenn man nicht, der Natur des Menschen Rechnung tragend, geeignete Vorkehrungen traf. Der gesetzliche Zwang, nur bei einer bestimmten Krankenkasse versichert zu sein, führte zu einer Entfremdung zwischen dem einzelnen Versicherten und seiner Kasse. Damit ging aber das persönliche Verantwortungsgefühl vieler Versicherter für ihre Kasse weitgehend verloren. Sie glauben sich nicht mehr einer Versicherung gegenüber zu sehen, sondern empfinden den Abzug ihrer Sozialversicherungsbeiträge als eine Sparkasse, bei der man möglichst rasch wieder in Form von Leistungen zu seinem eingezahlten Geld kommen müsse. Durch die kostenlose Gewährung der Krankenbehandlung und praktisch auch der Heilmittel ist die vernünftige Selbstbeschränkung vieler Versicherten bei der Inanspruchnahme ausgeschaltet worden. Im Wesen des Menschen ist es aber gelegen, daß kostenlos beigestellte Leistungen meist gering geachtet und vielfach ohne Selbstbeschränkung bedenkenlos in Anspruch genommen werden.

Die Einbeziehung weiter Kreise in die gesetzliche Krankenversicherung, die ja von Anfang an eine soziale Krankenversicherung sein sollte, führte dazu, daß Personengruppen nunmehr versichert sind, deren sozialer Standard in einem krassen Gegensatz dazu steht, was ihre Kasse an Honorar für Leistungen aus der Krankenversicherung bezahlt. Es liegt daher auf der Hand, daß die Vertragspartner der Kassen sich von dem Gefühl einer gewissen Ausbeutung nicht frei machen können, wenn sie wirtschaftlich sehr gut gestellte Versicherte zu den gleichen, sehr niedrigen Tarifen behandeln müssen, wie den sozial Schutzbedürftigen und wirtschaftlich Schwachen. Die absolute Höhe des Honorars ist hierfür ein schlagender Beweis. Der Pauschalbetrag, der von der größten Krankenkasse für die Behandlung eines Patienten durch einen praktischen Arzt für die Dauer eines Vierteljahres gezahlt wird, beträgt heute S 32.25.

Um zu einer echten Sanierung der Krankenkassen zu gelangen, muß daher auf eine ganze

Reihe von Komponenten Rücksicht genommen werden. Viele maßgebliche Vertreter auf Kassenseite und auf Seite der Vertragspartner der Krankenkassen sind sich über die zahlreichen Ursachen der Krise der österreichischen Krankenversicherung einig. Es wäre hoch an der Zeit, die vorhandenen positiven Kräfte, wo immer sie stehen, zusammenzufassen und für die Durchführung einer klugen Reform einzusetzen, ohne sie durch überflüssige Auseinandersetzungen, die die Wurzel des Uebels beseitigen können, zu binden und zu vergeuden.

Die Basis dieser Reform müßte in einer nüchternen Durchrechnung der tatsächliehen Kosten des heutigen Lei stungsstandards bestehen. Wenn irgendwie möglich, wird kein vernünftiger Mensch dafür plädieren, wirklich notwendige Leistungen auf dem Gebiete der Krankenversicherung den Anspruchsberechtigten wegzunehmen. Genau so gut wird aber die Bevölkerung verstehen, daß diese Leistungen angemessen und gerecht bezahlt werden müssen. Es wird immer wieder vorgebracht, daß es vom politischen Standpunkt aus unmöglich sei, die Versicherten mit höheren Beiträgen, Kostenzuschüssen usw. zu belasten, auch die österreichische Wirtschaft sei derzeit nicht in der Lage, höhere Soziallasten zu übernehmen. Ich glaube, man unterschätzt aber die Einsicht der Bevölkerung bei einer schonungslosen, aber sachlichen Aufklärung über die finanziellen Notwendigkeiten einer modernen Gesundheitspolitik. Wenn man sich die Milliardenbeträge vor Augen hält, die jährlich für den Konsum von Alkohol und Nikotin ausgegeben werden, so ist im Verhältnis dazu der echte zusätzliche finanzielle Mehrbedarf einer Reihe von Krankenkassen zur Deckung der gerechten Forderungen ihrer Vertragspartner und zur Aufrechterhaltung des gegenwärtigen Leistungsumfanges in der Krankenversicherung ein Bruchteil dieser Beträge. Man wecke in der Bevölkerung durch geeignete Maßnahmen das seit Jahrzehnten vielfach brachliegende Gefühl der richtigen Einstellung gegenüber ihrer Versicherung und vollende die finanzielle Sanierung der Krankenkassen durch die genau so notwendige geistige Sanierung. Dann wird die Reform der österreichischen Krankenversicherung — auch wenn sie nicht in einem Zuge durchgeführt werden kann — ein Vorbild sein, wie sich der vom Kollektiv bedrohte Mensch des 20. Jahrhunderts vor den Gefahren und Belastungen der Erkrankung zu schützen versteht.

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