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Sozialismus: Modell 1960

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Die schwedische Regierungspartei hat soeben ihren 21. Parteikongreß beendet. Im Mittelpunkt der Diskussionen der 400 Delegierten im neuen „Haus des Volkes“ in Stockholm stand das neue Parteiprogramm, das eine Reihe wesentlicher Neuerungen bringt. Doch auch über die „Nahziele“ wurde gesprochen, und wieder einmal stand das „heiße Eisen“ Militär-und Verteidigungsfragen auf dem Diskussionsprogramm.

Staatsminister Tage E r 1 a n d e r, der auf vier Jahre als Parteiführer bestätigt wurde, umriß die Situation der Sozialisten in Schweden wie folgt: Nach dreißigjähriger Regierungszeit sei es in Schweden gelungen, den „traditionellen Begriff der Armut“ abzuschaffen. Damit sei eine neue Epoche sozialdemokratischer Politik eingeleitet. Laut Erlander haben die Sozialisten erreicht, daß die wesentlichsten „Sicherungsgesetze“, die den sozial Schwachen schützen sollen, verabschiedet werden konnten. Das Land verfügt heute über ein vorbildliches Pensionsgesetz und Arbeitsschutzgesetz, die Krankenversicherung sei obligatorisch, ein dreiwöchiger Urlaub werde jedem Arbeitnehmer garantiert, die 45-Stunden-Woche sei erreicht, das Nationaleinkommen steige mit durchschnittlich 3,5 Prozent jährlich, während sich die Konjunkturmaßnahmen der Regierung im Vergleich zu anderen Ländern bestens bewähren. Die Partei stehe stärker da als je zuvor in ihrer Geschichte: im 7,4 Millionen Einwohner zählenden Land sind 806.000 eingeschriebene Sozialdemokraten verzeichnet. (Etwa zwei Drittel von ihnen sind allerdings kollektiv, ohne Befragung, durch die Gewerkschaft, Parteimitglieder geworden.) Nun gelte es, neue Ziele anzusteuern. Den Weg zeigte der Parteivorsitzende Erlander selbst auf: Mit Rücksicht auf die im letzten Jahr aufgetretenen Konflikte zwischen Partei und Gewerkschaft und im Hinblick auf die kommenden Herbstwahlen, die entscheiden werden, ob die bürgerliche Front die Sozialisten in die Opposition verdrängen könne, galt es, ein populäres Wahlprogramm zu finden. Hauptforderungen im September: Einführung der 40-Stunden-Woche, garantierte Verlängerung des Urlaubs auf vier Wochen. *

In der Verteidigungsdebatte hatte die Parteiführung durch ein geschicktes Manöver alle „heißen Eisen“ von vornherein vor der Tür gelassen. Die atomare Bewaffnung, von der Bürgerlichen Front, einem Teil der Parteifreunde Erlanders und vielen anderen Organisationen und Verbänden als „unerläßlich zur Durchführung der Neutralitätspolitik Schwedens“ gefordert, wurde verschoben: ein extra eingesetzter Ausschuß hatte schon lange vor Eröffnung des Parteitages beschlossen, daß das Thema bis 1964 tabu sein sollte. Immerhin lagen 33 Motionen vor — sie reichten von der Forderung nach Atombomben bis zu utopischen Abrüstungsplänen kühnster Art. Verteidigungsminister Andersson konnte schließlich für seine gemäßigten und vielseitig auszulegenden Vorschläge die erforderliche Mehrheit erhalten. Andersson sprach einerseits davon, die Militärkosten und den ganzen Verteidigungsapparat auf das Wesentlichste zu beschränken, anderseits forderte er eine durchgehende Rationalisierung und Modernisierung auf allen militärischen Sektoren. Die Politik der strikten Neutralität zwischen den Machtblöcken soll fortgesetzt werden, man werde — ohne Atombomben zunächst — bis 1964 allen Druckmaßnahmen und Einflußmöglichkeiten irgendwelcher anderer Staaten widerstehen. In der Zwischenzeit gelte es, auf internationaler Ebene zu einem Abrüstungsabkommen zu gelangen. Sollte dies bis 1964 nicht erreicht sein, müßte der „verhängnisvolle Griff zur Bombe“ ernsthaft in Erwägung gezogen werden. Gegen diesen letzten Punkt wandten sich ganz entschieden die linken Gewerkschaftsgruppen, der sozialdemokratische Frauenbund und die Jugendbewegung der Sozialisten. Sie konnten jedoch, genau so wie jene, die aus Schweden ein einseitig abgerüstetes „Rotkreuzparadies“ machen wollten, keine größere Schar Anhänger finden.

Mit großer Mehrheit wurde das neue Parteiprogramm angenommen. Es wird die Vorlage des Jahres 1944 ablösen. Bereits nach dem Parteitag 1956 wurde die „grundlegende Neuformulierung und Modernisierung“ beschlossen. Seitdem hat ein Ausschuß an der Vorlage gearbeitet. Das Programm Modell 1960 bringt folgende Neuerungen: Zunächst sind die Sozialisierungspunkte — seit eh in Schweden nach anfänglichen Mißerfolgen überaus undoktrinär praktiziert — weiterhin verwässert bzw. weicher formuliert worden. In diesem Hauptpunkt wird in Zukunft verlangt werden, daß „Naturschätze und Unternehmen in den Besitz der Gemeinschaft oder unter ihre Kontrolle übergeführt werden sollen, soweit es notwendig ist, wichtige Staatsbürgerinteressen zu wahren“. Diese Kautschukformulierung dürfte faktisch den Todesstoß für die alte marxistische Forderung enthalten. In der Praxis ist es so, daß sogar die „atomare Forschung und Nutzung für friedliche Zwecke“ nur unter relativ geringer staatlicher Beteiligung in Schweden vorangetrieben wird. Wie das vorangegangene Parteiprogramm wird auch das modifizierte mit einer Prinzipienerklärung eingeleitet, der die einzelnen Programmpunkte, ihre Zahl wurde von 22 auf 31 vermehrt, folgen. In der Prinzipienerklärung ist gesagt, daß die Sozialdemokratie „den Verhältnissen der Menschen untereinander sowie der Gesellschaftsordnung das Ideal der Demokratie aufprägen will, um damit jedem einzelnen die Möglichkeit zu einem besseren und inhaltsreicheren Leben zu verschaffen“.

Im ersten; Programmpunkt, der die „Forderungin nach der Republik, allgemeines und freies Wahlrecht durch Regierung und Volk“ enthält, wurde das Wort „Volksabstimmung“ in „beratende Volksabstimmung“ abgeändert. Ein Zusatz faßt die „geheime und freie Wahl“ enger, was als Distanzierung von der Wahlpraktik der sogenannten sozialistischen Staaten des Ostens verstanden werden soll. Auch der zweite-'Programmpunkt erhielt einen Zusatz: in 25iktmfr-soH“'tiebin- der Rede-, Presse-, Reli-gions-, Versammlungs- und Vereinsfreiheit auch die Freiheit der Forschung und des künstlerischen Schaffens garantiert werden. Im dritten Punkt werden die Gleichheitsforderungen betont. „Es gilt, die Klassengrenzen zu beseitigen“, gerechte Einkommens- und Vermögensverteilung zu verwirklichen, gleiche Behandlung für alle, ohne Rücksicht auf Sprache, Rasse, gesellschaftliche Stellung, Geschlecht sowie gleicher Lohn für gleiche Arbeit. An diesem Punkt gab es eine heiße Debatte, da Schweden noch immer nicht die Gleichstellung der Frau im Berufsleben verwirklicht hat. „Das Ziel der Außenpolitik ist die Erhaltung des Friedens und der Llnab-hängigkeit durch eine feste (bewaffnete) Neutralitätspolitik.“ Neue Formulierungen verlangen mehr Laieneinfluß auf die Verwaltung, kommunale Selbstverwaltung und Demokratisierung des Unterrichts. Völlig neue Punkte sind die Forderungen, laut denen die Gesellschaft (Gemeinschaft) das kulturelle Schaffen fördern soll, daß die kulturellen Schöpfungen dem ganzen Volk zugänglich gemacht werden sollen sowie daß Musik, bildende Kunst, Literatur, Theater, Film, Radio, Television nebst der freien Volksbildungsarbeit gefördert werden sollen. Gleichfalls neu ist die Forderung nach Förderung der Forschung, die das Kulturleben vertiefen soll und die Anpassung des Menschen an die Gemeinschaft erleichtert. Der Kirche gilt ein besonderer Punkt im neuen Parteiprogramm. Im bisherigen Paragraphen ist die Abschaffung der Staatskirche und die Überführung ihres Besitzes in das Eigentum der Gemeinschaft gefordert. Das führte zu Mißverständnissen und scharfen Debatten. Im neuen Programm heißt es, daß „das Verhältnis von Staat und Kirche in Übereinstimmung mit den Grundsätzen der Demokratie und der Religionsfreiheit geregelt werden soll“ und daß „alle Religionsübungen auf der Grundlage der Freiwilligkeit erfolgen sollen“.

Modernisiert wurden die Programmpunkte über die Familie. Gefordert wird eine „kinderfreundliche Gemeinschaft“, der Ausbau der Familienberatung, wirtschaftliche Erleichterungen der Familien mit Kindern (nicht kinderreichen Familien) sowie die „Rationalisierung der Hausarbeit“. Den Belangen der Jugend — Bekämpfung der Jugendkriminalität, Alkoholismus und so weiter — gelten weitere neue Paragraphen.

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