Stadt der Überlebenskünstler

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Eindrücke abseits von Touristenströmen, renovierten Prunkbauten und neureichen Russen

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Eindrücke abseits von Touristenströmen, renovierten Prunkbauten und neureichen Russen

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St. Petersburg nach der Wende: nicht nur der Name Leningrad, sondern auch vieles andere wurde verändert und erneuert. Das Zentrum um Winterpalast, Eremitage, Admiralität und Isaakskathedrale erstrahlt in renoviertem Glanz, und die Prunkbauten am sechsspurig ausgebauten Newski-Prospekt können es mit denen in jeder modernen Großstadt mit historischer Tradition aufnehmen. Das Angebot in den eleganten Boutiquen, in den zahlreichen Restaurants und Bars entspricht dem in Paris, Rom oder Wien, und auch das Publikum unterscheidet sich nicht wesentlich - vor allem in dem Sinne, dass sich kaum Petersburger, sondern vor allem Europäer, Amerikaner und Japaner dort tummeln. Abgesehen von zirka drei bis fünf Prozent Neureichen, die es in den letzten Jahren zu beträchtlichen (oft dubiosen) Einkommen und Vermögen gebracht haben, können sich russische Bürger die materiellen Symbole des Kapitalismus beziehungsweise Waren aus dem Westen kaum leisten.

Zwei schwere Finanzkrisen 1991 und 1998, Preisfreigabe, galoppierende Inflation, Bankenkonkurse und Abwertung des Rubels gegenüber dem Dollar haben dazu geführt, dass viele Russen am Rande des Existenzminimums (oder auch darunter) leben. Davon merkt man wenig in der Innenstadt von Petersburg und in der Umgebung der touristischen Highlights - nur die Anzahl der Bettler ist dort um einiges höher als bei uns. Stutzig wird man erst bei einer Gegenüberstellung der Löhne beziehungsweise Pensionen mit dem Preisniveau für alltägliche Konsumgüter. Wie man es schafft , mit einer Mindestrente von 300 oder auch der durchschnittlichen Pension von 480 Rubel (gleichzeitig das Mindest-Erwerbseinkommen) über die Runden zu kommen, ist zunächst rätselhaft. Ein Kilo Mehl (ab 2,5 Rubel) und Brot (je nach Qualität fünf bis 15 Rubel) erscheinen noch erschwinglich; ein Liter Milch kostet 10 Rubel, Fleisch zwischen 30 und 100 Rubel (was wir für genießbar halten, ist nicht unter 80 Rubel zu bekommen und immer noch sehr fett). Von Kartoffeln, Kraut und Roten Rüben abgesehen (Kilopreise 5 bis 15 Rubel) entsprechen die Rubel-Preise für Gemüse und Obst (bei geringem Angebot und bescheidenem Sortiment) unseren Schillingbeträgen - Orangen oder Bananen sind fast unerschwinglich. 200 Gramm russisches Fruchtjoghurt kosten 6 Rubel, russische Schokolade 7 bis 10 Rubel; ausländische Produkte sind mittlerweile qualitativ kaum mehr besser, aber dreimal so teuer.

Teuer sind auch Wohnungen - zumindest diejenigen, die wir, von der Größe und vom Standard her als bewohnbar ansehen. Seit der Wende kann man die (zunächst grundsätzlich im städtischen Besitz befindlichen) Wohnungen theoretisch auch kaufen - aber 15.000 Dollar für eine Garconniere oder 30.000 Dollar für eine Dreizimmerwohnung sind für Russen astronomische Summen. Dreizimmerwohnungen sind ohnedies selten: die durchschnittliche Wohnungsgröße liegt in Großstädten wie St. Petersburg oder Moskau bei 55 m2.

Rund 20 Prozent der St.Petersburger leben allerdings (immer noch) in sogenannten "Kommunalkas", in Gemeinschaftswohnungen, in denen eine mehrköpfige Familie ein Zimmer (zum Preis von 60 bis 70 Rubel, Gas und Heizung inklusive) für sich hat, und Küche, Bad und WC mit anderen Mietern teilen muss. Für Kriegsinvalide, Arbeitslose, kinderreiche Familien und Mindestrentner werden die Mieten reduziert, und es gibt sogenannte "Sozialküchen" und "Sozialläden" (mit Nahrungsmitteln und Kleidung) für besonders Einkommensschwache , die überwiegend mit materieller beziehungsweise humanitärer Hilfe aus dem Ausland geführt werden. Sozialpolitische Maßnahmen dieser Art greifen aber automatisch immer zu kurz: nicht zuletzt aufgrund des rapiden und unkontrollierbaren Anwachsens der städtischen Bevölkerung. Junge Menschen aus ländlichen Regionen erwarten sich in den Großstädten bessere Jobchancen und ziehen zu Verwandten. Familien holen - auch wegen der besseren medizinischen Versorgung - ihre alten Eltern zu sich.

Damit wird der chronische Überbelag perpetuiert; die zahlreichen verglasten und verbauten Balkone der Mietshäuser zeigen den verzweifelten Kampf der Petersburger um jeden Quadratmeter. Vielfach funktioniert das Zusammenleben dann doch nicht; die Zahl der Obdachlosen mit Schlafplatz in Metrostationen wächst kontinuierlich. Verwitwete ältere Menschen sehen sich häufig gezwungen, ein Zimmer (oder auch nur einen Schlafplatz) mehr oder weniger legal unterzuvermieten, um finanziell einigermaßen über die Runden zu kommen. Eine Petersburger Mindestrentnerin könnte jedenfalls mit ihrem Monatseinkommen in einem durchschnittlichen Touristenhotel in Stadtrandlage gerade zehn Kaffee trinken - sie wird aber (trotz niedriger Preise bei den öffentlichen Verkehrsmitteln) kaum in Versuchung kommen, das zu tun; ebensowenig wie ein Petersburger Universitätsprofessor, der rund 900 Rubel verdient (gleichviel wie eine Kinderärztin und um 300 Rubel weniger als ein Pflichtschullehrer). Von technischen Berufen (vor allem Computerbranche) einmal abgesehen, sind Akademikereinkommen im Vergleich zu handwerklichen Produktionsberufen beziehungsweise Jobs in manchen Dienstleistungsbereichen (Banken, Versicherungen, Tourismus) sehr niedrig - bei gleichzeitiger hoher Akademikerarbeitslosigkeit.

Wobei - glaubt man der "amtlichen Statistik", in St. Petersburg die derzeitige Arbeitslosenrate insgesamt bei nur rund einem Prozent liegt. Hier wird, wie bei anderen staatlichen Dokumentationen offensichtlich geschönt; wenngleich es tatsächlich in ganz einfachen Dienstleistungsberufen schlecht bezahlte offene Stellen gibt, die teilweise von Gastarbeitern aus verschiedenen Ländern der ehemaligen Sowjetunion bzw. Rückwanderern aus den GUS-Staaten eingenommen werden.

Das "offizielle" Durchschnittseinkommen liegt bei 100 Dollar - diese Summe darf jedoch angezweifelt werden (weder die Aussagen von Experten noch "private" Recherchen bestätigen sie). Annähernd erreicht wird sie von vielen nur dadurch, dass die Russen Überlebenskünstler und Meister im Improvisieren sind - auch auf dem Arbeitsmarkt.

Zwei oder drei Nebeneinkommen auf dem grauen und schwarzen Markt sichern das Überleben - Universitätsprofessoren haben Zweitberufe als Journalisten oder Unternehmensberater, Mittelschullehrer verdienen mit Sprachunterricht oder Nachhilfe mehr als in der Schule, Ärzte arbeiten als Masseure oder Privatkrankenpfleger, wer ein Auto hat, fährt "schwarz" Taxi, ein Heer von Frauen steht für Haushaltsdienstleistungen und Reinigungsjobs zur Verfügung, im "Pfusch" werden Wohnungen renoviert und Autos repariert, und gehandelt wird auf Plätzen, Straßen und in U-Bahn Unterführungen mit allem, was nicht niet-und nagelfest ist. Nicht nur mit Kohl und Karotten aus dem Garten der Datscha, sondern auch mit selbstgebackenem Kuchen und gerösteten Kürbiskernen, mit Second-Hand-Kleidung und verzichtbarem Hausrat, mit gepantschtem Wodka, Drogen und Diebsgut.

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