Stöße in Richtung Abgrund

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Was EU, USA und Russland in der Ukraine alles falsch gemacht haben - und wie ein Bürgerkrieg zu vermeiden wäre. Ein Gastkommentar.

Die Wahl der Zerrissenen

Die Ukraine steht nach dem Abspaltungsreferendum im Ostteil des Landes kurz vor der Spaltung. Das Land scheint zum Spielball globalpolitischer Mächte geworden zu sein. Zum Unterpfand eines neuen Konflikts zwischen West und Ost. Die Bürger der Ukraine werden dafür einen sehr hohen Preis zahlen müssen. Der neue Präsident der Ukraine, der am 25. Mai gewählt werden soll, steht vor einer schier unlösbaren Aufgabe. Redaktion Oliver Tanzer

Die dramatischen Vorgänge in der Ukraine haben dieses lange ignorierte Land "an der Grenze“ unversehens in den Mittelpunkt internationaler Aufmerksamkeit und hektischer politisch-diplomatischer Aktivitäten katapultiert. Alles blickt derzeit gespannt und besorgt auf die am 25. Mai bevorstehenden Wahlen eines neuen ukrainischen Präsidenten. Dazu einige Thesen:

1. Es war angesichts der Zerrissenheit und Labilität des Landes seitens der EU unverantwortlich, die Ukraine mit dem Betreiben eines Assoziationsabkommens vor die Wahl zu stellen: EU oder Russland. Dies umso mehr, als dieses Abkommen auch einen "sicherheitspolitischen“ Teil umfasst und keinerlei Absicht besteht, die Ukraine ernsthaft in die EU zu integrieren. Politische Vernunft hätte geboten, frühzeitig mit Russland ein Übereinkommen zum dreiseitigen Nutzen zu suchen. Russland hatte das angeblich wiederholt vorgeschlagen, und Deutschland hätte das angeblich für gut befunden. In den letzten Jahrzehnten hat sich der "Westen“ und insbesondere die NATO entgegen nach dem Ende des Kalten Krieges gegebener Versprechen kontinuierlich Richtung Russland ausgebreitet, was immer wieder russischen Unmut auslöste. Es hätte der EU bewusst sein müssen, dass es eine Provokation darstellt, Russland weiter zu bedrängen, insbesondere mit Blick auf die Schwarzmeerflotte auf der Krim. Warum ist es übrigens größenwahnsinnig, wenn Russland geopolitische und ökonomische "Interessen“ verfolgt, wie sie für die USA und die EU selbstverständlich sind?

2. Es war von Russland illegitim und unklug, sich als Reaktion auf den mangels ausreichender Stimmen im Parlament illegalen Regime-Wechsel in Kiew die Krim einzuverleiben. Die zahlreichen früheren Völkerrechtsverletzungen des "Westens“ - Stichworte: Balkan, Weltkrieg gegen "Terrorismus“, Irak, Libyen - legitimieren nicht die anderer. Es war abzusehen, dass veritable oder vorgeschützte Befürchtungen seitens nunmehriger EU- und/oder NATO-Mitglieder in Osteuropa die EU und USA zu Reaktionen herausfordern würde. Und dass Kräfte im Osten und Süden des Landes ermutigt würden, ihrerseits ein Szenario à la Krim zu betreiben.

3. Dass dort nun als kleine "grüne Männchen“ verkleidete Russen am Werk sind, bleibt eine unbewiesene Vermutung. Ebenso gut kann man annehmen, Russland habe einen Besen geschaffen, den es nun nicht mehr kontrolliert. Putin empfahl vergebens, die Unabhängigkeitsreferenda vom 11. 5. zu unterlassen. Eine Einverleibung weiterer Teile der maroden Ukraine, wie auch das Gezerre um das Land insgesamt, kann aus verschiedenen Gründen eigentlich nicht im Interesse Russlands sein. Dass es jetzt die Separatisten, entgegen ihrer Hoffnungen und der Befürchtungen in Kiew, Brüssel und Washington, nicht militärisch unterstützt, stärkt Putin im eigenen Land und in Ex-Sowjetrepubliken mit großen russischen Minderheiten sicher nicht.

4. Die Krim-Aktion hat Russland international einigermaßen isoliert, vermutlich auch in dem Umfeld, in die "Eurasische“ Wirtschaftsunion geplant war. Die Sanktionen seitens USA und EU sind vermutlich verschmerzbar. Schwerer wiegen könnte der Imageverlust als Regionalmacht.

5. Es war und ist von der EU unverantwortlich, von Kiew nicht energisch und mit allen Mitteln zu verlangen, dass sie unverzüglich und ernsthaft den Dialog und Ausgleich (wahrscheinlich mittels Föderalisierung) mit "pro-russischen“ Landesteilen und Kräften sucht, die sich durch den verständlichen aber nichtsdestotrotz illegalen "regime change“ zu Recht oder zu Unrecht bedroht fühlen. Die Kiewer Regierung müsste gewalttätige anti-russische Kräfte, wie den "Rechten Sektor“ und paramilitärische Maidan-Milizen, unter Kontrolle bringen und entwaffnen, für eine rasche objektive Aufklärung der Gewaltexzesse auf dem Maidan, in Odessa und zuletzt in Mariupol sorgen, Angriffe auf unbewaffnete Zivilisten einstellen sowie anti-russische Ankündigungen unterlassen, wie beispielsweise betr. Gebrauch der russischen Sprache in Ämtern. Getreu ihren Werten müsste die EU auf "rule of law“ statt "rule of tanks“ bestehen. Oder hat sie auch einen Besen vom Stapel gelassen, den sie nicht beherrscht?

6. Die EU agiert in diesem Gezerre um die Ukraine leider wieder einmal als Junior Partner der USA. Zu einer veritablen eigenständigen EU-Außen- und Sicherheitspolitik braucht es die Emanzipation europäischer Politik von jener der USA, dort, wo es angebracht ist. Im Schreck rückt man aber nun näher zusammen. Kritik an der Bespitzelung und Bedenken gegenüber dem geplanten Freihandelsabkommen EU-USA treten in den Hintergrund. Die US-dominierte NATO gewinnt wieder eine Rolle. Die wechselseitigen Abhängigkeiten zwischen Europa und Russland, nicht nur im Energiebereich, sind aber zehnmal so groß wie die zwischen den USA und Russland. Umso größer sollte das europäische Interesse sein, mit Russland zu einem modus vivendi zu kommen.

7. Die EU wirft Russland andauernd "Eskalation“ vor und ignoriert alle dieser Theorie widersprechenden russischen Erklärungen und Aktionen. Vor allem von der anderen Seite gesehen nehmen sich allerdings Sanktionen, Kampfflugzeuge an den Grenzen und gezielte Isolation durch USA und EU ebenfalls als Eskalation aus. Putin wird von manchen zu einem neuen Hitler oder Stalin stilisiert. Als jemand, der die Sowjetunion in der Breschnew-Ära erlebt hat, finde ich auch Gleichsetzung der heutigen Situation mit dieser Zeit abwegig. Bekanntermaßen werden sich weitere EU-Sanktionen im wohl verstandenen europäischen Eigeninteresse in Grenzen halten. Welches Interesse könnte Europa an einem politisch und wirtschaftlich destabilisierten, immerhin noch mit atomaren Waffen ausgestatteten Russland haben?! Es ist im Übrigen zu hoffen, dass irgendwo in aller Stille ernsthafte Gespräche zwischen verantwortungsvollen Politikern statt.

8. Die meisten Medien tragen zu Ignoranz, Unverständnis, Desinformation und emotionaler Aufschaukelung bei, auf beiden Seiten. So ist es kaum möglich zu wissen, was da wirklich gelaufen ist und läuft. Daher ist auch dieses mein Meinungsbild letztlich spekulativ. Wer hierzulande versucht, sich ein objektives Bild zu machen oder in die Lage des "anderen“ hineinzuversetzen, wird als "Russland-Versteher“ abgekanzelt. Wer das Agieren von EU, USA oder NATO kritisiert, ist angeblich "für“ Russland und sein fraglos autoritäres Regime. Zweifel an der Weisheit "westlicher“ Politik sind aber nicht falsch, bloß weil sie auch die FPÖ äußert.

9. Die Präsidentschaftswahlen am 25. Mai, auf die sich Kiew mit westlicher Rückendeckung festgelegt hat, kommen zu früh, können unter den herrschenden Umständen auch ohne russische Querschüsse nicht sinnvoll abgehalten werden. Sie könnten ein weiterer Pflasterstein auf dem Weg zu einer Hölle sein, inklusive eines tatsächlichen militärischen russischen Eingreifens - was letztlich auf Europa zurückschlägt. Desgleichen waren auch die Unabhängigkeits-Referenda unter den 6,5 Millionen Einwohnern von Donezk und Lugansk am 11. Mai nicht nur verfassungsrechtlich illegitim, sondern auch Öl ins Feuer eines latenten Bürgerkriegs. Statt der Gewaltexzesse Kiews oder unkontrollierter Paramilitärs sollten im Dialog Grundpfeiler für die verfassungsrechtliche Konstruktion (künftige Kompetenzen des Präsidenten, Dezentralisierung) eingeschlagen werden.

10. Ein brauchbarer Ansatz für eine Lösung der Krise bestünde in einer garantierten Bündnisfreiheit der Ukraine und in einer sie, die EU und Russland einbindenden, wie Österreichs Außenminister Sebastian Kurz das vorgeschlagen hat. Wie immer: Es wäre verheerend und selbstbeschädigend, wenn sich schlafwandlerisch eine EU-Konfrontationspolitik gegen Russland etabliert. Putins kommen und gehen, Russland bleibt, und zwar in der Nähe.

* Die Autorin ist ehemalige Botschafterin Österreichs in Bratislava und London und war stv. Direktorin der Dipl. Akademie

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