Studenten und Priester als Angriffsziele

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Nicaragua kommt nicht zur Ruhe. Was Mitte April als Proteste gegen eine geplante Rentenreform begann, ist zu einem landesweiten Aufstand gegen die Regierung Daniel Ortega geworden -mit zahlreichen Toten. Nun geraten auch Kirchenvertreter zwischen die Fronten.

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Nicaragua kommt nicht zur Ruhe. Was Mitte April als Proteste gegen eine geplante Rentenreform begann, ist zu einem landesweiten Aufstand gegen die Regierung Daniel Ortega geworden -mit zahlreichen Toten. Nun geraten auch Kirchenvertreter zwischen die Fronten.

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Es war schrecklich, wie ein Horrorfilm, sehr schrecklich", sagt Valeska Sandoval. Sie und andere Studenten halten seit Anfang Mai den Campus der Autonomen Universität von Nicaragua (UNAN) besetzt. Mit Einbruch der Dunkelheit aber setzten am 13. Juli regierungstreue Paramilitärs zum Sturm auf das Gelände an. "Wir haben nur beobachtet, wie Scharfschützen auf den Dächern der Geschäfte rundherum Stellung bezogen. Sie sind hier rein und haben Feuer in Teilen der Universität gelegt. Glücklicherweise half der Pater uns und gewährte uns Zuflucht. Der Pater ist dann mit einer weißen Fahne raus, aber der Beschuss hörte nie auf." Vertreter der Erzdiözese Managua schätzen, dass etwa 200 junge Menschen in der Kirche der Göttlichen Barmherzigkeit, unweit des Haupteingangs der Uni, Schutz suchten. Währenddessen nahmen vermummte Bewaffnete und Polizisten die katholische Kirche unter Beschuss.

Hilferufe von Priestern

"Ich benötige Hilfe, um dies zu stoppen", twitterte Erick Alvarado Cole, der örtliche Pfarrer. "Beschütze uns, mein Herr", fügte er in einer anderen Nachricht hinzu. "Es ist so, als ob sie alle Studenten ermorden wollen", sagte ein anderer Priester, Raul Zamora, gegenüber der Washington Post.

Sanitäter, Vertreter von Menschenrechtsgruppen und der Katholischen Kirche versuchten den Studenten zu helfen, aber die Nationalpolizei riegelte den Umkreis der Universität ab. Die ganze Nacht über bemühten sich Kardinal Leopoldo José Brenes und der Apostolische Nuntius, Waldemar Stanisław Sommertag, gegenüber der Regierung um eine Feuerpause. Als die schließlich gewährt wurde, konnten sie im Morgengrauen des Samstags endlich zu den eingeschlossenen Studenten, Journalisten und Priestern in der Kirche, die die ganze Nacht über angegriffen worden waren, um diese herauszuholen. "Wir vertrauen auf das Handeln der Regierung, dass sie uns unterstützt, denn wir müssen diese Menschen in Sicherheit bringen", erklärte Sommertag nach seinem Eintreffen.

Mit Ankunft der Kirchenvertreter durften auch endlich Krankenwagen passieren, um die jungen Leute, die medizinische Versorgung benötigten, abzutransportieren. Für die beiden Studenten Gerald Vásquez und Ezequiel Gutiérrez kam jede Hilfe zu spät. Sie waren durch Kopfschüsse getötet worden, wie die Erzdiözese Managua und Menschenrechtsorganisationen berichteten; mindestens 16 Studenten wurden verletzt.

Sommertag selbst war wenige Tage zuvor Ziel von Attacken geworden. In Diriamba, rund 40 Kilometer südlich von Managua, zwischen Pazifikküste und Nicaraguasee gelegen, waren Anfang vergangener Woche rund hundert Regierungsanhänger in die San Sebastián-Basilika eingedrungen und hatten Kirchenvertreter, darunter den Apostolische Nuntius sowie mehrere Bischöfe angegriffen. Diese hatten in der Kirche Schutzsuchende besucht. Die Kirchenvertreter suchten angesichts der Angriffe Zuflucht in der Sakristei; zwei Polizeipatrouillen eskortierten sie schließlich aus der Kirche. Nach der Attacke des Mobs wurde der Dialog zwischen Opposition und Regierung zur Beilegung der Krise erneut ausgesetzt.

Einstellung der Repression

"Was die Bischöfe erlitten haben, ist nichts im Vergleich zu dem, was die Menschen in Nicaragua in diesen Tagen erleiden", sagte der Weihbischof von Managua, Silvio Báez, der ebenfalls unter den Angegriffenen war. Er kritisierte die staatliche Gewalt und forderte erneut die Einstellung der Repression. Die Ortega-Regierung überschreite "die Grenze des Unmenschlichen und Unmoralischen", twitterte Báez, und bezeichnete das Vorgehen gegen die Demonstranten als "kriminelle Repression". Er rief die internationale Gemeinschaft auf, mehr Aufmerksamkeit auf das Geschehen in Nicaragua zu richten.

Nicaragua erlebt derzeit die schlimmste Krise seit 40 Jahren. Proteste gegen eine geplante Reform der Rentenbeiträge Mitte April haben sich nach heftiger Repression durch die Regierung und mehreren Toten auf das gesamte Land ausgeweitet.

Gewalt gibt es auf beiden Seiten. In Morrito, im Landkreis Río San Juan, griffen vor einigen Tagen bewaffnete Anhänger der Opposition eine Polizeistation an. Dabei wurden vier Polizisten getötet; neun weitere entführt. Seit Beginn der Proteste am 18. April sollen bereits mehr als 300 Menschen gestorben sein.

Die Katholische Kirche hat sich als Vermittlerin in dem Konflikt angeboten. Und darin hat sie lange Tradition: Auf Vermittlung von Kardinal Miguel Obando Bravo söhnte sich Ortega mit der Katholischen Kirche aus. 2007 kehrte er zurück an die Macht; im Parlament setzte er ein absolutes Abtreibungsverbot durch, und berief Obando zum Präsidenten der Nationalen Versöhnungskommission.

Dank eines Paktes mit korrupten konservativen Eliten übernahm Ortega die Kontrolle über den Obersten Gerichtshof und die Wahlbehörde, schaltete die Opposition mehr oder weniger aus und hob ein Verbot der Wiederwahl des Präsidenten auf. Die meisten Weggefährten von einst haben dem zum ideologisch flexiblen Caudillo Gewandelten mittlerweile den Rücken gekehrt. Aber Ortega setzt ohnehin vor allem auf die Familie. So machte er seine Ehefrau Rosario Murillo zur Vizepräsidentin.

Dynastisches Modell, Einheitsparteiregime, autoritäre Regierung, Machtkonzentration und Ausschaltung der Opposition: Die Vorwürfe gegen Ortega sind lang. Das erklärt die Wucht der seit Wochen anhaltenden Proteste. Die Wut über die Rentenreform ist mittlerweile zu einem landesweiten Aufstand gegen den Präsidenten und dessen Frau geworden.

Zwar fordern die Demonstranten weiterhin die Aufklärung der Todesfälle und ein Ende der Gewalt, aber längst ist der Rücktritt von Präsident Ortega und Vizepräsidentin Murillo oder vorgezogene Neuwahlen die Hauptforderung der Demonstranten. "Unser Kampf besteht darin, dieses Regime zu beseitigen", sagt Armando Téllez, Wirtschaftsstudent und einer der UNAN-Besetzer, gegenüber dem Guardian. "Die Leute sind aufgewacht -und es gibt keinen Weg, sie wieder einzuschläfern."

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