Südosteuropa verstehen
Der von Jody Jensen herausgegebene Sammelband "Memory Politics and Populism in Southeastern Europe“ ist ein herausragendes Beispiel differenzierter Geschichtsbetrachtung.
Der von Jody Jensen herausgegebene Sammelband "Memory Politics and Populism in Southeastern Europe“ ist ein herausragendes Beispiel differenzierter Geschichtsbetrachtung.
Das „Institute of Advanced Studies Kőszeg“ (iASK) ist eine äußerst interessante Einrichtung. Vielleicht ist der Grenzbereich zu Österreich der Grund dafür, dass es dieser Institution gelungen ist, nicht in die politisch bedingten Veränderungen wissenschaftlicher Einrichtungen in Ungarn hineingezogen zu werden. Jody Jensen, die am iASK als „Permanent Research Fellow“ tätig ist, selbst aus den USA kommt und dort eine entsprechende akademische Laufbahn absolvierte, hat nun jedenfalls einen bemerkenswerten Sammelband vorgelegt, der sich mit der Gedächtnispolitik und dem Populismus in Südosteuropa auseinandersetzt. Die Liste der Autorinnen und Autoren ist beeindruckend: Sie sind entweder in den Balkanländern zu Hause, haben einen regionalen Hintergrund oder eine entsprechende internationale Vita.
Mehr als Ethnografie
Das Interessante an diesem Buch ist, dass hier nicht (wie allzu oft) die Auseinandersetzung auf ethnografische Gründe reduziert wird – und andere Faktoren wie das Problem der faschistischen und kommunistischen Vergangenheit ausgeblendet werden. Zur Sprache kommen akute Auseinandersetzungen und ihre Perzeption – wie etwa die Bomben auf Dubrovnik von serbischer und bosnischer Seite –, aber auch das für Österreich interessante Vermächtnis von Bleiburg in der kroatischen Geschichte. In die aktuelle Situation hinein führt die Auseinandersetzung um die Schaffung eines historischen „Irrgartens“, wie sie in Skopje zum künstlichen Aufbau einer nationalen Identität unternommen wurde. Auch die aktuellen Konflikte zwischen Nordmazedonien und Bulgarien werden behandelt – und führen zum ebenfalls virulenten Thema EU-Erweiterung.
Natürlich sind nicht alle Konflikte in dieser südosteuropäischen Region erfasst, aber es wird zielführend aufgezeigt, wo die Probleme liegen. In Wirklichkeit handelt es sich um ein Handbuch dafür, welche Fragen man klären muss, um im Zusammenhang mit Südosteuropa endlich zu europäischen Wegen zu kommen. Das gilt nicht nur für die Politik, sondern auch für die wissenschaftlich-historische Betrachtung der für Österreich so wichtigen Balkanregion. Vor Jahren wurde mit dem „Joint History Book“-Projekt der Versuch unternommen, eine differenzierte Geschichtsbetrachtung zu erreichen – ein Versuch, der leider infolge der Beendigung der Finanzierung durch die Europäische Kommission nach Vorliegen von beeindruckenden sechs Bänden über die Geschichte des Balkans im 19. und 20. Jahrhundert beendet wurde. Wenn Jody Jensen hier eine Fortsetzung dieser Übung durchführt (und gleichzeitig anregt), kann man ihr nur dankbar sein – nicht nur als Österreicher, sondern auch als Europäer.
Der Autor war Vizekanzler sowie Bundesminister und ist Vorsitzender des Instituts für den Donauraum und Mitteleuropa.