Timur verdrängt Lenin

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Samarkand und Buchara, die alten Oasenstädte an der legendären Seidenstraße, haben schon ruhigere Zeiten gesehen. Die Lunte brennt: Der islamische Fundamentalismus könnte einen zentralasiatischen Flächenbrand auslösen.

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Samarkand und Buchara, die alten Oasenstädte an der legendären Seidenstraße, haben schon ruhigere Zeiten gesehen. Die Lunte brennt: Der islamische Fundamentalismus könnte einen zentralasiatischen Flächenbrand auslösen.

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Gellende Sirenen in Taschkent. Ausgangssperre. Blaurote Militsia überall. Die Grenzen sind hermetisch abgeriegelt, nachdem sechs Autobomben in der usbekischen Hauptstadt 15 Menschenleben und Hunderte Verletzte gefordert haben: Das jüngste Attentat auf Präsident Islam Karimov ist fehlgeschlagen, und die Suche nach den Schuldigen hat gerade erst begonnen. Die russische Mafia? Tadschikische Drogenhändler? Oder doch der militante Moslem-Flügel im größten islamischen Land Zentralasiens, wo sich die 80 Moscheen der Sowjet-Zeit längst auf 4.000 vervielfacht haben?

Letzteres wäre die bequemste Lösung für Karimov, einen Altkommunisten, dessen Kampf gegen potentielle Verfechter eines islamischen Gottesstaates in die Endphase gegangen ist - die Verhaftung und Folterung klerikaler Oppositioneller, denen Putschaktivitäten gegen die weltliche Regierung angelastet wurden, ist erst wenige Wochen her. Menschenrechtsfragen sind für die regionale Supermacht Usbekistan kein Thema, und die NSS - der usbekische KGB - steht nicht gerade im Ruf der Zimperlichkeit. Jihad, der heilige Krieg, einmal andersrum. Das staubige Ferghana-Tal im Dreiländereck zu Kirigisistan und Tadschikistan, notorische Niederlassung fundamentalistischer Aufständischer und traditioneller Schauplatz blutiger Massaker, war bislang unter rigider Kontrolle.

Destabilisierung Die politische Destabilisierung des Steppenstaates hat System. 73 Prozent sind Usbeken, jeweils rund fünf Prozent Kasachen, Tadschiken und Russen - die neue Qualität der ethnischen Spannungen gibt Anlaß zur Sorge. Da ist der allgegenwärtige große Bruder Rußland, mit dem der kollektive GUS-Sicherheitspakt am 4. Februar überraschend aufgekündigt wurde. Die russische Armee wiederum muß ihre überstarke Präsenz in der zentralasiatischen Außenzone rechtfertigen. Das Know-how pakistanisch-tadschikischer Terrorkommandos zum Aufbau einer militanten Opposition steht außer Frage, auch ohne handfeste Beweise. Dazu afghanische Taliban als stets willkommene Sündenböcke. Für Innenminister Zohirjon Almatov besteht kein Zweifel an der Beteiligung der "Wahabbi" und der "Hezbe Tahriri Islomiya", islamischer Bewegungen in den versteckten Hochtälern des Hindukusch. Die "Vergiftung der Gedanken unserer Jugend" wird befürchtet, die Abkehr vom "wahren Islam" und die Eliminierung sämtlicher Grenzen innerhalb der jungen zentralasiatischen Staaten.

Ökodesaster Aralsee Karimov, selbst Moslem, warnte bereits vor drei Wochen vor Tendenzen zur Schaffung eines neuen Kalifenstaates. Rigide Säuberungsaktionen unter der verbliebenen Opposition scheinen jetzt zur Beruhigung der Zivilbevölkerung gerechtfertigt, wie Rustam Inoyatov vom nationalen Sicherheitsdienst kryptisch vermerkt. Den Attentätern droht zumindest der Verlust ihrer Hände, läßt der Präsident persönlich keinen Zweifel an den blutigen Sanktionen.

Karimov herrscht mit eiserner Faust. Seit der Unabhängigkeit 1990 an der Macht, mag er die sozialistische Ideologie verloren haben - nicht aber seine Fähigkeit, das rohstoffreichste Land der Region dem Kapitalismus zu nähern. Trotz der Ökokatastrophe Aralsee hält sich Usbekistan an fünfter Stelle der internationalen Baumwollproduktion, hat die siebentgrößten Goldlagerstätten der Welt und enorme Öl- und Gasreserven. Die Hauptstraßen asphaltiert, die (urbane) Infrastruktur vergleichweise top - die Multis haben Usbekistan längst als Produktions- und Absatzmarkt entdeckt, auch wenn die Jubelmeldungen über die Wachstumsraten mit Vorsicht zu genießen sind.

Taschkent, die Beton-Fassade des sozialistischen Realismus, hat den grauen Charme des sowjetischen Standbeines inmitten des Orients erhalten. Apparatschiks, Ladas und nur ein bißchen Globalisierung. Coca-Cola hat seine Abfüllanlagen in der Zwei-Millionen-Metropole Taschkent kürzlich verdreifacht, seit 1995 140 Millionen US-Dollar investiert, und erzeugt fortan 350 Millionen Liter pro Jahr. Die drittgrößte Privatbank Deutschlands, die Frankfurter Kommerzbank, hat sich hier 1998 etabliert - mit der Perspektive vermehrter Förderung des umsatzträchtigen Shurtan Öl- und Gas-Projektes. Uz-Daewoo, ein usbekisch-koreanisches Joint Venture im Automobilbereich, hält seit langem eine Monopolstellung und plant eine Ausweitung seines Motorenwerkes in der Hauptstadt - doch die Exporte stagnieren bei einem Drittel der geplanten 50.000 Autos jährlich. 12.000 US-Dollar kostet ein Daewoo Nexia made in Usbekistan - viel Geld. Und Benzin ist bloß am Schwarzmarkt aufzutreiben, will man nicht einstündige Wartezeiten vor dem löchrigen staatlichen Tankstellennetz in Kauf nehmen. Das Monatsgehalt eines Universitätsprofessors reicht gerade für einen Schwarzmarkttank oder zehn Kilogramm Fleisch. Die Geschäfte sind meist leer, von braunen Kefirflaschen und pyramidenförmig gestapelten Fischkonserven abgesehen.

Wirtschaftswunder?

Money statt Marx? Daß die BBC-Mittelwelle seit Jänner nicht mehr zu empfangen ist, trübt das gehegte Bild eines aufgeschlossenen Potentaten im hehren Kampf gegen finsteren Traditionalismus. Die Baumwollernten bleiben seit Jahren deutlich unter dem Plansoll. Von Wirtschaftswunder spricht nur die staatliche Propaganda: Die Inflation seit 1990 liegt bei fast 600 (!) Prozent, die Koppelung der neuen Usbeken-Währung Sum an den russischen Rubel wurde zum Bumerang. Was nützen fulminante Gasexporte in den nördlichen Nachbarstaat Kasachstan, wenn der jede Zahlungsmoral vermissen läßt? Die ersehnte Souveränität gegenüber Moskau wird ein frommer Wunsch bleiben, solange Rußland Haupthandelspartner bleibt - mehr unfreiwillig denn aus alter Brüderlichkeit: nirgends sind Hammer, Sichel und kyrillische Schriftzeichen so schnell verschwunden gewesen wie im zentralasiatischen Orient.

Krummdolche Hohe sechs Prozent beträgt die Kindersterblichkeit, und dennoch hat sich die Bevölkerung seit 1970 mehr als verdoppelt - bei jährlichen Wachstumsraten von derzeit 3,2 Prozent ist bis 2015 mit 33 Millionen Einwohnern zu rechnen. Über die Hälfte der 23 Millionen ist heute jünger als 15, und die usbekische Durchschnittsfamilie habe neun Kinder, wie Ahmed, der wohlbeleibte Herr des Samovars vor der Freitagsmoschee in Buchara, stolz erklärt; an Kriegern für die gute Sache besteht kein Mangel.

Wer Usbekistan meint, denkt an Marco Polo und Seidenstraße, träumt von Samarkand und Buchara, den mittelalterlichen Märchenstädten aus Tausendundeine Nacht. Doch der Weg dorthin ist beschwerlich, ist doch ohne Genehmigung der Polizeiwache am Zentralbusbahnhof Taschkent nicht einmal ein Ticketkauf möglich. "Dollar yes?" wollen geschniegelte Uniformträger wissen und blättern den Inhalt verborgener Geldgürtel genüßlich auf die Holztische schummriger Kämmerchen.

Dunkle Plüsch-Vorhänge im Ikarus-Bus nach Samarkand. Nur langsam werden die militärischen Checkpoints seltener, wo dumpfe Schwarzenegger-Verschnitte mit Spiegelbrillen und Schaftstiefeln nach regimefeindlichen Elementen Ausschau halten. Erste verstohlene Blicke hinaus auf die flimmernden Baumwollfelder, das weiße Gold Usbekistans, wo ganze Lkw-Ladungen gebückter Pflückerinnen bunte Farbtupfen in das staubige Grün bringen. Blitzblaue Beiwagenmaschinen holpern über sandige Feldwege. Schnupftabak macht die Runde, und die schweigende Beklommenheit der Metropole fällt sichtlich ab von den zerfurchten Gesichtern hinter den schmutzig-weißen Plastiklehnen, an denen Krummdolche baumeln.

BMW-Teppiche Sechs Stunden bis Samarkand. Weitere vier Stunden bis Buchara. Der lange Weg zurück in die Vergangenheit ist gepflastert mit plakatgroßen Propaganda-Parolen für ein neues Usbekistan und rostigen Kolchosen-Relikten einer alten Zeit, der nur wenige nachtrauern. Hunderte mittelalterliche Koranschulen. Blaugeflieste Minarette. Lehmige Moscheen. Das Bibi-Khanym-Mausoleum, ein usbekisches Taj Mahal. Im Schatten der Arkaden sitzen Teppichhändler, die neben traditionellen Motiven längst auch BMW-Logos knüpfen. Bärtige Alte hocken gemütlich auf enormen Rosinensäcken, kauen zähen Schaschlik und nippen am unvermeidlichen Tee im Plastikbecher. Die braunen Kuppeln der Hamams, der öffentlichen Bäder, werfen lange Schatten im fahlen Licht der untergehenden Sonne. Der Muezzin ruft wieder vom Kalan-Minarett zum Gebet wie seit 850 Jahren - was sind schon 120 Jahre russische Besatzung, davon die letzten 70 unter dem Joch des Kommunismus?

Die Gerüche des Orients liegen über Samarkand, das seinen mittelalterlichen Nationalhelden Timur jetzt wieder verehren darf und Lenin vergessen muß. Die monumentale Verleihung des Timur-Ordens an Potentat Karimov zeigt die neuen alten Prioritäten der Post-Sowjet-Ära. Ein bißchen Islam darf sein, nicht mehr. Die Brot-und-Wodka-Politik des Präsidenten steht vor der Nagelprobe, Usbekistan an der Kippe. Orientalische Despoten mit kommunistischer Vergangenheit mögen keinen Gottesstaat. Und die nächsten Bomben kommen so sicher wie das Freitagsgebet. Inschallah.

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