Türkischer Tristan und EU-Isolde

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Ein Gast aus längst vergangenen Zeiten verfolgt die Abstimmung des Europaparlaments über die Frage nach den EU-Beitrittsverhandlungen mit der Türkei.

Auch wenn er von gestern ist, von einem weit zurückliegenden gestern - Gottfried von Straßburg lässt sich nicht täuschen: Im europäischen Parlament in seiner Stadt wird an diesem 15. Dezember 2004 sein Stück aufgeführt. Zuerst ärgert er sich, dass niemand seinen Namen nennt, niemand ihn als Schöpfer des Schauspiels angibt - doch dann weicht der Zorn dem Stolz, der Ärger der Freude: so groß, so eindrucksvoll, so getreu, so wirklich wurde sein Tristan, sein Spiel über Liebe und Treue, über Heuchelei, Verlogenheit, Maskerade und Betrug noch nie zuvor gespielt. Das Plenum im Europaparlament füllt sich, die Zuschauertribünen sind bereits bis auf den letzten Platz belegt. An diesem Tag haben die EU-Parlamentarier die Aufmerksamkeit, die sie sich stets wünschen. Gottfried von Straßburg lehnt sich zurück und setzt den Kopfhörer auf - das Spiel kann beginnen:

Chor:

Zu den türkischen EU-Ambitionen wurde bis zu diesem Tag alles gesagt: Jedes Argument ist gewälzt, entkräftet, verworfen und wieder erneuert worden. Keine Polemik blieb ungenützt, kein Szenario ungedacht, keine Prognose undiskutiert. Und jetzt, heute, wo alle Worte gesagt sind, bleiben nur mehr zwei übrig: Wahrheit und Lüge.

Die Heuchler I:

Der britische Liberale Graham Watson stellt einen Antrag zur Geschäftsordnung. Der Präsident des Europaparlaments, Josep Borrell, erteilt ihm das Wort. Watson steht auf: "In zehn Jahren habe ich das in diesem Haus noch nicht erlebt", sagt er, dann ruft er laut in Richtung der konservativen Fraktion: "Heuchler!" Präsident Borrell entzieht Watson das Wort, fragt auf welchen Artikel der Geschäftsordnung er sich beziehe. "Artikel 162", antwortet Watson wie aus der Pistole geschossen und nennt im selben Atemzug diejenigen "Autokraten und Feiglinge", die gemäß Artikel 162 der Geschäftsordnung eine geheime Abstimmung für die Frage nach den EU-Beitrittsverhandlungen mit der Türkei beantragt haben. "So etwas passt nicht zur Würde dieses Haus, die Bürger haben ein Recht zu wissen, wer dafür und wer dagegen ist", beschließt Watson seinen Antrag, die letzten Worte sind im aufbrausenden Applaus kaum mehr zu hören.

Die Heuchler II:

Josep Borrell erteilt dem deutsch-französischen Grünen Daniel Cohn-Bendit das Wort: Der Wahnsinn habe in das Europaparlament Einzug gehalten, sagt Cohn-Bendit: Eine inhaltliche Abstimmung, die geheim ist - "völlig verrückt!" Der Grüne rauft sich seine ohnehin schon zerrauften Haare, schlägt dabei versöhnliche Töne an: "Ich habe tiefen Respekt für eine Person, die zu dem Entschluss gekommen ist, heute gegen Beitrittsverhandlungen mit der Türkei zu stimmen." Doch dann legt Cohn-Bendit los, die Faust in die Höhe gestreckt ruft er: "Aber ich werde niemals jemanden respektieren, der heute nicht den Mut hat, zu sagen, was er zur Türkei denkt." Buhrufe und Applaus setzen gleichzeitig ein, ein Journalist auf der Tribüne klopft sich auf den Oberschenkel, die Damen und Herren einer japanischen Besuchergruppe nehmen die Kopfhörer ab und flüstern sich belustigt gegenseitig ins Ohr.

Die Heuchler (letzter Teil):

Martin Schulz, der deutsche Sozialdemokrat, der vergangenes Jahr mit Italiens Ministerpräsidenten Berlusconi im Europaparlament heftige Wortgefechte geführt hat, setzt die Beschimpfung der "Heuchler" fort: Er zitiert den früheren belgischen Premier Jean-Luc Dehaene der jetzt als Abgeordneter der EVP-Fraktion im Plenum sitzt: "Eine geheime Abstimmung ist juristisch akzeptabel, aber politisch inakzeptabel." - Das hat gesessen, die Buhrufe aus dem rechten Teil des Saales sind diesmal deutlich gedämpfter; es ist ja auch nicht sicher: Wird damit der rote Schulz oder der eigene Dehaene ausgebuht? Schulz erklärt dann noch dem Präsidenten, dass es sich bei Artikel 162 um eine Kann- und keine Muss-Bestimmung handelt, doch Borrell gibt sich zugeknöpft: "Ich habe Sie nicht um Rat gebeten."

Die Verteidigung der Konservativen für ihren Antrag auf geheime Abstimmung fällt verhalten aus. Vom Minderheitenrecht auf eine geheime Abstimmung ist die Rede - sehr überzeugend klingt das nicht, wo doch die EVP im Europaparlament die Mehrheit hält. Doch die Europäische Volkspartei ist gespalten: in dieser Frage und generell in der Frage nach der Aufnahme von Beitrittsverhandlungen mit der Türkei. Die Leiterin der ÖVP-Delegation im Europaparlament, Ursula Stenzel, wird die geheime Abstimmung auch nach dem Votum verteidigen: "Es war gut so, es war richtig." Keine Rede von Verlogenheit oder Heuchelei oder Feigheit - Stenzel: "Erst eine geheime Abstimmung garantiert, dass ehrlich abgestimmt wird."

Die Abstimmung:

Der Präsident bricht die Diskussion um Artikel 162 ab. "Manchmal ist die Geschäftsordnung auslegbar", leitet er die Verlautbarung seiner Entscheidung ein, "die Präsidentschaft hat hier einen Ermessensspielraum und nach Kontaktierung unserer Juristen und dem Vergleich mit Präzedenzfällen, entscheidet die Präsidentschaft..." Borrell zögert ein wenig, so diszipliniert, so an seinen Lippen hängend, erlebt er die Parlamentarier nicht oft. Dann sagt er: "Die Präsidentschaft entscheidet für geheime Abstimmung" - eine Schreck-, eine Freudensekunde später fangen Applaus und Buhrufe wieder an, doch diesmal mit verkehrten Rollen: rechts wird geklatscht, links geschimpft.

Ein Abstimmungsmarathon beginnt: Dutzende Änderungsanträge werden abgefragt; damit die eigene Mann- und Frauschaft im Ja-und-Nein-Wirrwar nicht die Orientierung verliert, strecken die jeweiligen Fraktionsvorsitzenden ihren Daumen in die Höhe oder nach unten. Vor den Abgeordneten liegen Schilder mit den Aufschriften "Ja!", "Evet!", "Yes!" oder "Oui!" und auch einige, weniger Taferl mit "Nein!" und "No!" sind zu sehen.

Der französische Rechtsaußen und neu ins EU-Parlament eingezogene Jean-Marie Le Pen richtet ein "No!"-Schild vor sich auf. Am Vortag hat er in einer Pressekonferenz gefordert, dass "in dieser Stunde der Wahrheit" Ehrlichkeit auf der Tagesordnung stehen müsse. Gerade noch wurde er von den Linken im Saal als Heuchler beschimpft, weil er für eine geheime Abstimmung eingetreten ist, am Vortag hat er selber die "heuchlerischen Worte", die "sinnlosen Versprechen" zwischen der EU und der Türkei gegeisselt. Und dann hat Le Pen gesagt: "Es ist wie in der Liebe, wenn man der Geliebten in die Augen schaut, dann weiß man es ist Liebe, und es ist wahr." Doch EU und Türkei schauten sich nicht in die Augen, so Le Pen, sondern sie würden sich nur ständig gegenseitig belügen.

Das Finale:

Gottfried von Straßburg auf der Tribüne ist gerührt - so wollte er immer verstanden werden: "Sehnende sind es, Liebende, unauflöslich miteinander verbunden, die alle Widerstände brechen..." Die Abgeordneten im Plenum heben ihre Hände hoch, strecken die "Ja!"- oder "Nein"-Taferln in die Luft, reißen Meister Gottfried jäh aus seinen Gedanken. Das Abstimmungsergebnis wird bekannt gegeben: 407 Stimmen für Beitrittsverhandlungen mit der Türkei, 262 dagegen, 29 Enthaltungen - die Abgeordneten stehen auf, die Mehrheit beglückwünscht sich, die Minderheit tröstet sich, alle verlassen den Saal. Gottfried bleibt, wundert sich: "Schon aus? - Halt zurück, mein Spiel geht weiter." Keiner kommt zurück, schließlich verlässt auch Gottfried das EU-Parlament zu Straßburg, Zweifel quälen ihn: "War das doch nicht mein Stück, bin ich doch von gestern, von einem weit zurückliegenden gestern?"

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