Überlebensraum Slums

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Slums sind mehr und mehr eine Herausforderung für die Weltgemeinschaft, analysiert die UNO in einem aktuellen Bericht. Zuallererst ist das Leben im Slum aber eine tägliche Herausforderung für seine Bewohner.

Knapp eine Milliarde Menschen - das ist ein Sechstel der Weltbevölkerung und ein Drittel der weltweiten Stadtbewohner - leben in Slums; diese Zahl könnte sich in den kommenden drei Jahrzehnten verdoppeln, im Jahr 2050 könnten dann gar 3,5 Milliarden Menschen - die Hälfte der für die Mitte des 21. Jahrhunderts prognostizierten weltweiten Stadtbewohner - in Slums leben: Zu diesem Schluss kommt die Habitat-Organisation der Vereinten Nationen in ihrem in diesem Herbst vorgelegten Bericht "The Challenge of Slums" (Die Herausforderung der Slums). Laut UN-Angaben handelt es sich dabei um das umfangreichste Dokument, das je zu diesem Thema erstellt worden ist.

Die Zahl der Slumbewohner ist demnach in den neunziger Jahren des vorigen Jahrhunderts rapide angestiegen. Dies ist auch darauf zurückzuführen, dass die ländlichen Gebiete keinen weiteren Bevölkerungszuwachs mehr verkraften könnten und dieser daher von den urbanen Räumen absorbiert werden müsse. Wie UN-Generalsekretär Kofi Annan im Vorwort des mehr als 300 Seiten dicken Dokuments feststellt, verlagert sich damit auch "die globale Armut in die Städte, ein Prozess, der heute als die Urbanisierung der Armut anerkannt wird".

Kleine Enklaven für Reiche

Prozentuell ist die Zahl der Slumbewohner in den Städten in Sub-Sahara-Afrika mit 71,9 Prozent am höchsten, in Europa mit 6,2 Prozent am niedrigsten. In absoluten Zahlen leben hingegen rund 60 Prozent der weltweiten Slumbewohner in Asien. Als Slums definiert der Bericht dabei notdürftig gebaute und übermäßig dicht bewohnte Ansiedlungen, denen Basiseinrichtungen wie Zugang zu sauberem Wasser fehlen. Derartige Quartiere sind laut dem Bericht in manchen Städten in Entwicklungsländern derart weit verbreitet, "dass sich die Reichen in kleinen, umzäunten Enklaven absondern".

Das mit zahlreichen Statistiken und Fallstudien aus allen Erdteilen bestückte Dokument behandelt Aspekte wie das Versagen von Regierungen und Stadtplanern, die Herausforderungen für eine nachhaltige Urbanisierung, Städte im Kontext der Globalisierung und des Rückzugs des Staates. Weiters den historischen Kontext und die geschichtliche Entwicklung von Slums, deren Ausformungen, Strukturen sowie soziale und ökonomische Charakteristika, die Maßnahmen staatlicher und lokaler Politik wie die Rolle von Nichtregierungsorganisationen. Armut, Ungleichheit, Ungerechtigkeit und Marginalisierung sind dabei zentrale Themen.

Arme als Wirtschaftsfaktor

Anlässlich der Präsentation des Berichts verwies Anna Tibaijuka, die Exekutivdirektorin von UN-Habitat, aber auch auf einen besonders wichtigen Aspekt zum Thema Slums: "Wir müssen anerkennen", erklärte Tibaijuka, "dass die Armen ein bedeutender Wirtschaftsfaktor sind, hart arbeitende und ehrenwerte Menschen."

Derartige Worte lassen wohl jeden, der sich einmal zu Besuch dort aufgehalten hat, an Dharavi denken. Mit rund einer Million Einwohner ist das in der indischen Wirtschafts- und Finanzmetropole Mumbai (ehemals Bombay) gelegene Dharavi das größte durchgehende Slumgebiet in ganz Asien. Wer hier durch die wenigen breiten Straßen und unzähligen engen Gassen streift, dem fällt sofort eines auf: Ein Gutteil der Hütten und Häuser sind mehr als nur Wohnorte. Sie dienen zugleich als Arbeitsplätze, an denen getöpfert und gehämmert wird, Leder verarbeitet und Zuckerwerk hergestellt, Gold geschmiedet und Zahnpasta erzeugt. Hier wird medizinisches Gerät, etwa von der Weltgesundheitsorganisation (WHO) zertifizierte Operationsnadeln, hergestellt und werden Metall- und andere Produkte wieder verwertet.

"Ein Slum ist nicht eine chaotische Ansammlung von Baustrukturen; er ist eine dynamische Ansammlung von Personen, die herausgefunden haben, wie man unter den allerwidrigsten Umständen überlebt", betont daher die in Mumbai lebende Journalistin Kalpana Sharma, die im Millenniumsjahr ein Buch mit dem Titel "Rediscovering Dharavi" (Dharavi neu entdecken) veröffentlichte. Diesem positiven Urteil setzt sie freilich sofort eine Korrektur nach: Bei all seiner sicherlich einzigartigen Produktivität und den Erfolgsgeschichten, die Dharavi vorzuweisen hat, gebe es selbstverständlich keinen Grund zum Jubeln. Denn in keinem dieser Unternehmen würden irgendwelche Arbeitsgesetze beachtet, ganz abgesehen vom Grundsätzlichen: "Niemand sollte unter solchen Bedingungen leben müssen."

Wie hoch der Gesamtumsatz aller zumeist sehr kleinen Gewerbe- und Industriebetriebe in Dharavi ist, von denen eine beträchtliche Zahl auch für den Export produzieren, weiß niemand. Sharma nennt Schätzungen, die von mehr als umgerechnet einer Million Euro am Tag sprechen. Nachprüfbar ist das nicht, denn diese Betriebe sind nicht dank, sondern trotz der Regierung und der zuständigen Ämter und Behörden entstanden - und viele sind illegal.

Apathie der Regierungen

Die rechtlichen Aspekte von Slums gehören zu den allerschwierigsten. Zunächst entsteht nahezu jeder Slum widerrechtlich auf öffentlichem Land. In den neunziger Jahren sind laut dem Habitat-Bericht allerdings Regierungen weltweit von "negativen politischen Maßnahmen wie Vertreibung, wohlwollender Vernachlässigung oder unfreiwilliger Umsiedelung von Slumbewohnern abgegangen". Stattdessen lege die Politik heute zunehmend das Gewicht auf Hilfe zur Selbsthilfe, die Verbesserung bestehender Slums und die Förderung ihrer Bewohner sowie die Anerkennung ihrer Rechte.

Die im UN-Bericht kritisch analysierte Apathie von Regierungen und deren mangelnder politischer Wille, wenn es um die Schaffung von Wohnraum für die Armen geht, lässt sich auch in Mumbai belegen. Anstatt Programme für die Integration von Zuwanderern und die Errichtung von günstigen Gemeindewohnungen zu entwickeln, beschränkte man sich zumeist auf kurzfristige und Adhoc-Maßnahmen. Nur unter entsprechendem Druck werden laut Sharma manche Programme entwickelt, "halbherzig durchgeführt und beim ersten Hindernis wieder fallen gelassen".

"Reißt Dharavi nieder!"

Rufe nach der Zerstörung von Slums - unabhängig davon, was mit ihren Bewohnern passiert - werden aber zumal von Angehörigen der Mittelklasse allenthalben weiterhin laut. Dies gilt auch für Dharavi. Kalpana Sharma empören Forderungen wie "Reißt Dharavi nieder!" Für sie sind sie Zeichen der Blindheit der Mittelklassen, die beim Wort Slum nur an "schmutzige und verseuchte Elendshütten" denken und "nur die Hässlichkeit der Bauten sehen, nicht aber die Vitalität der Menschen, die darin wohnen", "Menschen, die wie alle anderen ihr Leben und ihre Ziele haben".

"Slums repräsentieren das Schlimmste an städtischer Armut und Ungleichheit", schreibt Kofi Annan im Vorwort des Habitat-Berichtes. "Doch die Welt hat die Ressourcen, das Knowhow und die Macht, die Ziele zu erreichen, die in der Millenniumsdeklaration (der UNO; Anm.) festgelegt worden sind." Laut dieser Deklaration soll bis zum Jahr 2020 das Leben von zumindest 100 Millionen Slumbewohnern signifikant verbessert werden. Das Dokument versteht der UN-Generalsekretär als Diskussions- und Handlungsgrundlage, damit auch den heutigen Slumbewohner dieser Welt ein Leben "in Würde, Wohlstand und Frieden" ermöglicht wird.

The Challenge of Slums

UN-HABITAT's Global Report on Human Settlements 2003; Sprache: Englisch;

bestellbar bei: www.amazon.co.uk

und www.unhabitat.org

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