Umgefärbte Republik?

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Zur politischen Farbenlehre hat das Institut für die Wissenschaft vom Menschen (IWM) in Wien geladen.Eva Glawischnig, Barbara Helige, Lorenz Fritz und Reinhold Lopatka debattieren mit Buchautor Gerfried Sperl über den Zustand des Landes.

Der österreichische Staat wurde seiner Banken, Energiekonzerne, Wohnbauunternehmen etc. beraubt, und unter dem Deckmantel der Deregulierung werde das soziale Netz zerstört. Was sagt ein Vertreter der Industrie zu Gerfried Sperls zentralen Thesen in seinem Buch "Die umgefärbte Republik"?

Lorenz Fritz (Industriellenvereinigung): Der Staat wurde nicht beraubt. So ist das nicht passiert. Nicht im Sinne von Beraubung, sondern im Sinne von vernünftiger Arbeitsteilung. Nicht im Sinne von Schwächerwerden, wie es die Schlussfolgerung von Herrn Sperl ist, sondern im Sinne von Stärkerwerden. Fokussierung heißt Stärke. Was soll der Staat für die Bürger des 21. Jahrhunderts leisten? Das ist die entscheidende Frage, und da greift die journalistische Zuspitzung auf den beraubten Staat zu kurz.

Eva Glawischnig (Grüne): Die Frage nach den Kernaufgaben des Staates wird in Österreich immer mit der dumpfen Argumentation abgeblockt: Wir haben soviele Schulden gemacht, jetzt müssen wir sparen. Das ist eine dümmliche Diskussionsebene. Stattdessen gehört geklärt: Was sind staatliche Kernaufgaben, die wir uns leisten wollen und sollen? Deshalb legt das Buch den Finger in eine Wunde, die nicht erst in den letzten Jahren aufgebrochen ist. Jetzt ist es so, dass die Triade: Ausgliederungen, Privatisierungen und Liberalisierungen vollzogen wird, ohne vorher ausdiskutiert zu sein.

Gerfried Sperl ("Standard"): Damit kein Missverständnis entsteht: Ich halte es für richtig, dass der Staat seiner wirtschaftlichen Aufgaben beraubt wurde. Bei einer staatlichen Planwirtschaft könnte ich ja nicht die von mir verlangte Präferenz für Forschungs- und Bildungsinvestitionen finanzieren. In einem Know-how-Staat ist das die Voraussetzung für eine wettbewerbsfähige Wirtschaft. Gewisse Lenkungsaufgaben sollte der Staat jedoch nicht aufgeben. Grundstrukturen müssen weiterhin vom Staat finanziert und kontrolliert werden. Dazu gehört nicht die Besetzung der Professorenposten an den Universitäten. Dazu gehört allerdings sehr wohl die Finanzierung der Grundlagenforschung, der Ausbau und Erhalt der Verkehrs- und Kommunikationswege usw.

Reinhold Lopatka (ÖVP): Im europäischen Kontext stehen wir in all diesen Bereichen nicht schlecht da. Der Regierungserklärung sind drei Ziele vorangestellt: Politik soll gerecht, nachhaltig und zukunftsorientiert sein. Wir haben das Sozialsystem nicht abgebaut, sondern ausgebaut, vom Kindergeld bis zur Hospizkarenz. Andere Regierungen haben das nicht geschafft.

Sperl: Dass die ÖVP dem Kindergeld zugestimmt hat, ist eine Abkehr von der Subsidiarität, die sie im Erziehungswesen immer hochgehalten hat. Es gibt zwar das von der FPÖ erfundene Kindergeld, aber es gibt nicht mehr die bevorzugte Förderung der Mehrkinderfamilien. Und bei den Kinderkrippenplätzen sind wir im unteren Drittel in Europa, bei den Kindergärten immer noch erst im Mittelfeld.

Glawischnig: Was ist denn übrig von der christlich-sozialen Tradition der Volkspartei? Beispielsweise im Bereich Asyl- und Flüchtlingsrecht: Ist es nötig, dass die Regierung immer darauf wartet, bis sie von den Höchstgerichten verurteilt wird, bevor sie die gesetzlich festgelegten Standards umsetzt? In einem Punkt bin ich mit dem Buch nicht einer Meinung: Die ÖVP hat das Phänomen des Populismus nicht in den Griff bekommen. Es geht nicht darum, wie man die FPÖ zähmt, sondern wie man das Gedankengut, das dahinter steht, zähmt. Und wenn die ÖVP einen Wahlkampf macht, bei dem Flüchtlinge auf der Straße stehen, sehe ich in diesem Punkt keine wirklichen Fortschritte. Solange es legitim ist, dieses Gedankengut in politischen Erfolg umzumünzen, ist die ÖVP eine neoliberale Partei, die christlich-soziale Werte hintanstellt.

Lopatka: Ich wehre mich dagegen, dass man uns in ein gewisses Eck stellt. Den Erdrutschsieg der ÖVP bei der letzten Wahl interpretiere ich als Aufbruch zur Mitte. Im Ausland ist in diesem Sinn der Niedergang der Haider-FPÖ viel mehr beachtet worden als Schüssels Wahlsieg. Österreich ist auch nicht ungerechter geworden. Laut Statistik der Weltbank hat Österreich die weltweit beste Einkommensverteilung. Das oberste Zehntel der Bevölkerung verdient bei uns "nur" vier Mal soviel wie das unterste Zehntel. In der Schweiz ist dieses Verhältnis 1:10, in den USA 1:19. Und die geplante Steuerreform nützt jenen zuerst, denen es nicht so gut geht. Das steuerfreie Einkommen, 13.400 Euro jährlich, hätte auch eine sozialdemokratische Regierung einführen können. Aber sie hat es nicht gemacht.

Sperl: Die ÖVP hat ihre christlichen Grundlagen verlassen. Sie hat nicht mehr den Familienbegriff, den sie früher gehabt hat, sondern einen geteilten Familienbegriff. Er gilt für Österreicher, da wird die Familie hoch gehalten, er gilt nicht für Ausländer. Die ÖVP opponiert gegen den Familiennachzug von Ausländern. Und wenn Diakonie und Caritas in Zukunft nicht mehr ihre bisherigen Aufgaben im Asylbereich wahrnehmen dürfen, sondern private Firmen diesen Bereich übernehmen, ist das eine Tendenz zur Privatisierung der sozialen und humanitären Aufgaben des Staates. Es kann sein, dass man hier gar nicht nachdenkt, sondern aus Kostengründen andere Lösungen sucht. In der Auswirkung führt es aber zu einer Entchristlichung des politischen Bereichs. Und das durch die ÖVP. Die Caritas war früher in vielen politischen Bereichen eins mit den wesentlichen Stoßrichtungen der ÖVP. Heute ist die Caritas links von der ÖVP. Nicht weil die Caritas nach links gerutscht ist, sondern weil die ÖVP nach rechts gerückt ist.

Glawischnig: Was im Verhältnis zwischen Regierung und NGOs fehlt, ist eine sachliche, nüchterne Auseinandersetzungskultur, in der man Kritik vorbringen kann, ohne dass gleich die Subventionen gekürzt werden.

Barbara Helige (Richtervereinigung): Mit dieser Problematik kämpft auch die Vereinigung der Österreichischen Richter sehr stark. Wenn jede Stellungnahme parteipolitisch zugeordnet wird, ist jede differenzierte Diskussion unmöglich. Wie steht jemand zur Gerichtsbarkeit? Diese Frage ist für uns das ausschließliche Kriterium. Und da gab es in den letzten Jahren schon den einen oder anderen Anlass, wo wir uns besorgt zu Wort melden mussten. Ob Spitzelaffäre oder der Streit um den Verfassungsgerichtshof - wir Richter haben es so empfunden, als wenn es Politiker nicht aushalten, dass Entscheidungen auch anders ausgehen, als sie es wollen. Und sofort wurden mögliche Machtmittel überlegt und angedroht. Hier zeigt sich ein Mangel an Respekt gegenüber der Gerichtsbarkeit. Ob das strukturell ist oder doch nur Zufall...

Sperl: Meine These ist, dass sich die ÖVP zu einer republikanischen Partei US-amerikanischen Zuschnitts entwickelt.

Lopatka: Wenn wir unser dichtes Sozialnetz sehen und unser Gesellschaftssystem mit dem US-amerikanischen vergleichen, so sind da Welten dazwischen. Das ist nicht vergleichbar. In der ÖVP steht das Reformerische im Vordergrund und nicht das Reaktionäre. Es gibt vielleicht auch bei uns den einen oder anderen Reaktionär, nur im Unterschied zum ÖGB haben sie bei uns nicht das Sagen. Für mich ist die ÖVP heute in einer viel offeneren Phase als in den achtziger Jahren oder Anfang der Neunziger. Ich sehe es zudem als zutiefst christlich-soziale Politik an, wenn wir uns der Generationengerechtigkeit annehmen. Es werden in Zukunft die Über-60-Jährigen wahlentscheidend und nicht die 20- bis 30-Jährigen. Darauf nicht zu reagieren, halte ich demokratiepolitisch für eine große Gefahr.

Fritz: Konsens- oder Konfliktdemokratie - das ist doch alles europäisch lang gelaufen. Schauen wir nach Holland. Sogar das Poldermodell - ein besseres Sozialpartnermodell hat es nirgendwo sonst gegeben - zerbröselt. Wir sind ja nicht die einzigen, die in dieser Umbruchsituation leben, wir tun nur immer so. Darum geht es jetzt auch nicht um Umfärben, sondern um Umgestaltung.

Helige: Geht die Umgestaltung im Justizbereich in Richtung eines Law-and-Order-Staats? Diese Frage stellt sich, wenn von Umgestaltung die Rede ist. Was wir dabei aber berücksichtigen müssen, ist der 11. September. Gewisse bereits vorhandene Tendenzen wurden damit sehr stark verstärkt...

Sperl: Die reale Terrorgefahr und die damit geschürte Angst führt dazu, dass die Zügel angezogen und autoritärere Strukturen unterstützt werden. Im Gefolge des 11. September ist ein Staatsverständnis entstanden, das jenen Kräften, die der Demokratie immer schon an den Kragen wollten, mehr Möglichkeiten einräumt. Da müssen wir Widerstand leisten, die demokratischen Kräfte stärken und ausbauen, damit wir die Erungenschaften des Rechtsstaates erhalten.

Das Gespräch redigierte Wolfgang Machreich.

BUCHTIPP:

DIE UMGEFÄRBTE REPUBLIK

Anmerkungen zu Österreich

Von Gerfried Sperl

Zsolnay Verlag, Wien 2003

geb., 165 Seiten, e 18,40

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