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Unbehagen bleibt

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Es war das erste Mal in der Geschichte der Zweiten Republik, daß im Osterreichischen Nationalrat Kritik am Staatsoberhaupt geübt wurde, und zwar von Sprechern beider Oppositionsparteien, die zusammen die Mehrheit im Parlament bilden und fast 52 Prozent der Wählerstimmen auf sich vereinen. Darüber hinaus wurde der Bundespräsident nicht, \vie üblich, rnit Beifall begrüßt, als er die Präsidentenloge des Parlaments betrat. Das Haus nahm sein Erscheinen nicht zur Kenntnis. Auch dies geschah zum ersten Mal in der Geschichte der Republik.

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Es war das erste Mal in der Geschichte der Zweiten Republik, daß im Osterreichischen Nationalrat Kritik am Staatsoberhaupt geübt wurde, und zwar von Sprechern beider Oppositionsparteien, die zusammen die Mehrheit im Parlament bilden und fast 52 Prozent der Wählerstimmen auf sich vereinen. Darüber hinaus wurde der Bundespräsident nicht, \vie üblich, rnit Beifall begrüßt, als er die Präsidentenloge des Parlaments betrat. Das Haus nahm sein Erscheinen nicht zur Kenntnis. Auch dies geschah zum ersten Mal in der Geschichte der Republik.

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Ob es Jonas nachdenklich stimmte? Wahrscheinlich nicht, weil er es sonst vermieden hätte, sich in eine solche Lage zu begeben. Er hielt sich zwar bei seiner Handlungsweise strikte an die Verfassung, doch er verletzte die Spielregeln der Demokratie, vor allem aber rief er ein Unbehagen bei einem Teil der Bevölkerung hervor.

Im Artikel 71 der Bundesverfassung heißt es: „Der Bundeskanzler und auf seinen Vorschlag die übrigen Mitglieder der Bundesregierung werden vom Bundespräsidenten ernannt.“ Dies bedeutet, daß es im Ermessen des Bundespräsidenten liegt, wen er mit der Bildung einer Regierung beauftragt. Anderseits schränkt der Artikel 74 der Bundesverfassung dieses Recht insofern ein, als der Bundespräsident gezwungen ist, die Bundesregierung, aber auch jedes ihrer Mitglieder, abzuberufen, falls der Nationalrat in Form eines Mißtrauensantrages seinen Willen diesbezüglich kundtut.

Die Basis der Minderheitsregierung ist dadurch gesichert, daß die österreichische Bundesverfassung im Gegensatz zur Verfassung anderer Staaten das parlamentarische Vertrauensvotum nicht vorschreibt, demzufolge jede neue Regierung erst die parlamentarische Mehrheit erhalten muß, ehe sie ihr Amt antreten kann. Somit ist in Österreich eine vom Bundespräsidenten ernannte Regierung so lange im Amt, solange sie nicht durch einen von der Mehrheit des Parlaments gefaßten Mißtrauensantrag gestürzt wird. Dieser . Fall aber dürfte bei der derzeitigen politischen Zusammensetzung des österreichischen Nationalrates nicht so schnell eintreten.

Warum herrscht nun bei beiden Oppositionsparteien ein Unbehagen wegen der Handlungsweise des Bundespräsidenten, obwohl sie ja in der Lage wären, jederzeit die Regierung Kreisky zu stürzen? Es ist nicht die Minderheitsregierung als solche, sondern die Art, wie sie zustande kam, die bedenklich stimmt. Nehmen wir an, die oberösterreichische und vor allem die steirische Landesorganisation der ÖVP hätte sich bei der letzten Bundespräsidentenwahl stärker engagiert, so hieße heute der Bundespräsident Dr. Gorbach. Die Stimmenmehrheit für Jonas betrug nicht einmal ein Prozent. Was hätte nun Gorbach nach dem 1. März 1970 getan?' Auch er hätte Kreisky als Obmann der stärksten Partei mit der Regierungsbildung betraut und ihm den Auftrag erteilt, eine große Koalition zustande zu bringen. Kreisky hätte in diesem Fall zügig verhandelt, die Nebenfragen ausgeschaltet und sich auf die beiden Hauptpunkte konzentriert: Wie soll die Koalition funktionieren und wie soll die Ressortverteilung erfolgen?

Kreisky, zweifellos einer der klügsten Köpfe unter Österreichs an klugen Köpfen nicht überreicher Politikerschar, hätte die große Koalition zustande gebracht. Hätte er allerdings so verhandelt wie in den vergangenen Wochen und wäre er dann ohne Ergebnis zu Gorbach gekommen, dann hätte ihn dieser entweder ersucht, das Kräfteverhältnis der beiden Großparteien stärker zu berücksichtigen und seine Bemühungen fortzusetzen, mit der ÖVP ein Ubereinkommen zu erzielen oder aber mit der FPÖ über die Bildung einer kleinen Koalition SPÖ—FPÖ zu verhandeln. Da die zweite Version auf Grund der Wahlerklärung der Freiheitlichen nicht möglich gewesen wäre, hätte Kreisky alles unternommen, eine große Koalition zustande zu bringen, in der Erkenntnis, daß andernfalls Gorbach einer demokratischen Spielregel entsprechend Dr. Withalm mit der Regierungsbildung betrauen würde. Erst wenn auch Withalm mit seinen Verhandlungen um eine Regierungsbildung gescheitert wäre, hätte auch Gorbach eine SPÖ-Minderheits- oder eine Beamtenregierung eingesetzt. Wie Gorbach wäre auch jeder parteiungebundene Bundespräsident vorgegangen. Beide hätten auch die Vertreter aller drei im Parlament vertretenen Parteien wenigstens einmal zu sich geladen, um ihren Standpunkt kennenzulernen. Für Jonas aber war die FPÖ nicht würdig, empfangen zu werden. Sie wird aber würdig sein, mit der SPÖ gemeinsam Gesetze im Parlament gegen die Stimmen der ÖVP zu beschließen.

Hier aber steckt die Wurzel des Unbehagens. Nicht die Minderheitsregierung ist es, die stört. Was stört, ist die willkürliche Auslegung, wer und wann jemand in Österreich demokratisch ist. Hätte die FPÖ nicht ihre einseitige Erklärung vor den Wahlen abgegeben, so hätte Jonas wahrscheinlich nach dem Scheitern der Verhandlungen mit der ÖVP Kreisky grünes Licht für die Bildung einer kleinen Koalition gegeben. Da diese aber nicht im Bereich der Möglichkeit stand, ließ der Bundespräsident den Versuch zur dritten Variante, nämlich eine kleine Koalition zwischen ÖVP und FPÖ erst gar nicht zu. Sie wäre ihrer geringen Mandatsstärke wegen kaum zustande gekommen, nur stünde in diesem Fall die SPÖ-Minderheitsre-gierung anders da, und das Unbehagen über das Vorgehen des Bundespräsidenten existierte nicht.

Die Macht ist an sich böse, sagt der berühmte Schweizer Historiker Jacob Burckhardt. Dieser Satz ist philosophisch zwar nicht zu halten, doch besteht kein Zweifel, daß die Macht viele dazu verleitet, mehr von ihr Gebrauch zu machen, als es der Notwendigkeit entspricht.

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