Die Furche-Herausgeber
Tunesien, Ägypten - und jetzt? Ratlos verfolgen wir Aufstand um Aufstand. Wie konnte uns, den angeblich so Über-Informierten, die tiefe Frustration dieser Völker verborgen bleiben? Und was kommt als Nächstes? Haben wir zu lange den falschen Medien geglaubt, den falschen Experten zugehört? Sind Diplomatie und Geheimdienste ihr Geld wert gewesen? - Kein ganz neuer Gedanke:
• Wieso etwa hat uns 1979 der Sturz des persischen Schah und der Siegeszug Khomeinis ganz unvorbereitet getroffen?
• Wieso hat uns 1989 das Ende des Kommunismus so sehr am linken Fuß erwischt?
• Wieso haben wir über Jahrzehnte hinweg nichts vom dumpfen Brodeln in vielen unserer Urlaubsländer bemerkt? Von der latenten Wut, die nun Millionen Menschen auf die Straßen treibt, um ihre Unterdrücker loszuwerden?
Spontane Angstlosigkeit
Viel ist derzeit von einer "digitalen Revolution“ die Rede, die den autoritären Herrschern mit Handys und Internet-Blogs an den Leib rückt - und die der Weltpolitik eine ganz neue, gefährliche Instabilität verleiht. Aber: Erklärt das auch das Ausmaß des Zorns und der spontanen Angstlosigkeit in Tunis, Kairo und anderswo? Erklärt es unsere völlige Ahnungslosigkeit - bis hinauf zu den Schaltzentralen der Weltmächte?
Wir alle sind Zeugen, wie Politik, Diplomatie und Medien im Umgang mit Verbündeten à la Ben Ali und Mubarak über Nacht einer neuen Begrifflichkeit unterworfen werden: Gestern noch als "Staatsmann von großer Weisheit“ umschwärmt; als "Präsident, der die Zukunft fest im Blick hat“. Derselbe heute schon als "Diktator von menschenverachtendem Zuschnitt“ verketzert und ausgestoßen.
Die Wahrheit ist: Politik, Weltpolitik vor allem, ist und bleibt ein seltsam rechtsfreier - und moralfreier - Raum. Ein Spiegelkabinett, das auf jede Volte der Geschichte geschmeidig vorbereitet sein muss: Der Freund und Helfer wird zum Despot, ja Mörder. Welch ein Ausverkauf der bisher gültigen Gewissheiten - zu tief reduzierten Preisen!
"Politics is about interests“ lautete Henry Kissingers Grundgebot der Politik. Für den Westen hieß das lange: lieber ein Folterer als ein Kommunist. Und heißt bis heute: lieber gesicherte Öllieferungen als Demokratie und Menschenrechte.
Schwache starke Regime
Spielregeln, die kaum jemand hinterfragt hat. Die Politik braucht Verbündete. Die Diplomatie liebt Schönwetter. Die Wirtschaft baut auf Stabilität. Und Medien sind den Interessen und Wertungen globaler Nachrichtenagenturen ausgeliefert.
Ausgerechnet im gefährlichsten Wetterwinkel der Erde werden die alten Sicherheiten jetzt herausgefordert: Nicht die alten, korrupten Clans und machthungrige Generäle drehen derzeit am "sausenden Webstuhl der Zeit“, auch nicht global vernetzte Lobbys oder todessüchtige Terroristen. Nein, es sind - man glaubt es kaum - die Völker. Die alten, vergessenen "Massen“. Angetrieben von einer neu entdeckten Wahrheit: Nichts ist so schwach wie ein starkes Regime!
Ein zutiefst faszinierender und beunruhigender Gedanke - auch für uns sicherheitshungrige Demokraten.
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