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Unser Glück — unser Recht - unsere Aufgabe

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Die Neutralität der Schweiz, ein bereits durch Jahrhunderte tatsächlich bestehender politischer Zustand, wurde nach den napoleonischen Wirren durch die am 20. März 1815 den Bevollmächtigten der acht Signatarstaaten des Pariser Vertrages (Oesterreich, Spanien, Frankreich, Großbritannien, Portugal, Preußen, Rußland, Schweden) abgegebene und an die in Zürich versammelte Schweizer Bundesversammlung gerichtete Erklärung formuliert.

Die offizielle Zustimmung der Schweiz erfolgte mit den Noten vom 27. Mai. Am 20. November 1815 wurde in Paris die offizielle Deklaration von Metternich, Westenberg, Richelieu, Castlereagh, Wellington, Hardenberg, Humboldt, Rasumoffsky, Capo d'Istria unterfertigt; sie wurde später auch von Schweden und Norwegen, Spanien und Portugal ratifiziert. In ihr anerkennen und garantieren die vertragschließenden Mächte die dauernde Neutralität der Schweiz, die Integrität und Unverletzlichkeit ihres Territoriums sowie auch die Neutralität der an die Schweiz grenzenden nördlichen Teile Savoyens.

Die Neutralität der Schweiz wurde im 19. Jahrhundert verschiedene Male auf die Probe gestellt, 1848, am schwersten 1859, ferner 1866 und 1870/71. Beim Ausbruch des ersten Weltkrieges ordnete der Schweizer Bundesrat am

3. August 1914 die Allgemeine Mobilisierung an und erteilte der Regierung weitgehende Vollmachten zur Sicherung der Neutralität, der Währung und der Lebensmittelversorgung. Am

4. August erließ der Schweizer Bundesrat eine an die garantierenden Staaten gerichtete Neutralitätserklärung.

Im Verlaufe des ersten Weltkrieges widersetzte sich; der Schweizer Bundesrat mit Erfolg der Forderung der Alliierten, sich der Blockade gegen die Mittelmächte anzuschließen.

Mit dem Ende des Krieges ergab sich aber auch für.die Schweiz.die “Notwendigkeit; ich mit der Revision des Völkerrechtes und mit der Frage der Neutralität' zu befassen.

Die Schweizer Neutralität hätte im „Covenant“ des Völkerbundes ohne Schwierigkeit verankert werden können. Dies ist nicht geschehen, obwohl die Schweizer Vertreter dafür mit dem Hinweis eintraten, daß die Schweizer Neutralität gewiß ebensoviel Anrecht auf die Einbeziehung in den „Covenant“ gehabt hätte wie die amerikanische Monroe-Doktrin. Erst durch den Artikel 43 5 des Versailler Vertrages erhielt der Artikel 21 des Völkerbundpaktes eine authentische Interpretation, indem er feststellt, daß die Schweizer Neutralität einer internationalen Vereinbarung zum Schutze der Wahrung des Friedens gleichgestellt wurde.

Die Vorgeschichte der Aufnahme der Schweizer Neutralität in den Versailler Vertrag ist besonders lehrreich, denn ihretwegen sah sich die Schweiz einer schweren diplomatischen Pression seitens Frankreichs — Poincares — ausgesetzt. Die Neutralität war hier — und dies ist der Grund, warum eine besondere Aufmerksamkeit darauf gelenkt werden muß — einem diplomatischen Spiel auch von der Seite eines Freundes ausgesetzt. Daß aber Frankreich sich gern als Freund der Schweiz geachtet wissen will, darüber besteht kaum ein Zweifel. Und dennoch hat Poincare mit der ausdrücklichen Anerkennung der Schweizer Neutralität zurückgehalten, bis er im diplomatischen Wege, der im Artikel 43 5 ausdrücklich erwähnt wird, einen Verzicht der Schweiz auf die im Artikel 5, Alinea 2, des Pariser Vertrages vom 20. November 1815, und Artikel 92, Alinea 1, des Schlußprotokolls des Wiener Kongresses festgesetzte Neutralisierung einer Zone in Savoyen erreicht hatte. Der Schweizer Bundesrat hat hierzu festgestellt, daß dieser Verzicht der Schweiz den Gewinn eingetragen hat, die Neutralität der Schweiz nicht nur durch die Signatare vom 20. November 1815, sondern durch alle Signatare des Versailler Friedensvertrages vom 28. Juni 1919 anerkannt zu sehen.

Der Wortlaut im Artikel 435, auf den es hier ankommt und der auf die Insistenz der Schweizer Diplomatie zurückzuführen ist, lautet bezüglich der am 20 November 1815 stipulierten Garantien der Schweizer Neutralität: ..garanties qui constituent des engagements pour le main-tien de la paix“. die durch diesen Artikel 435, mit Ausnahme det auf die neutralisierte Zone in Savoyen sich beziehenden Textstelle, als zu Recht bestehend anerkannt werden.

Diese Formulierung hat es der Schweiz möglich gemacht, dem Völkerbund beizutreten. *

Der Beitritt begegnete in der Schweiz selbst ganz erheblichem Widerstand, da viele in der indirekten Verbindung mit einem Siegerdiktat Gefahren für die Neutralität sahen. Aus rein idealistischen Gründen erhielten jedoch die Anhänger des Beitrittes zum Völkerbund die Mehrheit. Der Hohe Rat der Siegermächte machte der Schweizer Regierung durch die zunächst erfolgte Ablehnung der den Schweizer Gesetzen entsprechenden Form dieses Beitrittes, nämlich einer Volksabstimmung, ihre Aufgabe nicht leicht.

Die Schweizer Regierung blieb fest und erklärte prompt, daß die Schweizer Neutralität in allen Kriegen gewahrt werden müsse, auch in solchen, die vom Völkerbund gemäß Artikel 16 des Paktes geführt würden, daß das Schweizer Gebiet unverletzlich bleibe und daß die Schweizer zu allen Opfern bereit seien, um diese Unverletzlichkeit zu verteidigen, und daß schließlich die Schweiz an keiner militärischen Aktion des Völkerbundes teilnehmen noch einem Truppendurchmarsch oder Kriegsvorbereitungen auf ihrem Gebiete zustimmen werde.

Auf Grund dieser Haltung erfolgte am

13. Februar 1920 im St.-James-Palast in London die Deklaration des Hohen Rates der Alliierten, die dem Schweizer Standpunkt voll Rechnung trägt.

Die Schweiz beschloß jedoch auch auf Grund ettter Volksabstimmung, bei der die Mehrheit vor allem durch die Haltung der Französisch sprechenden Kantone bestimmt wurde, dem Völkerbund beizutreten. Allerdings hat, wie der Schweizer Staatsmann Max Huber von Am beginn auseinandersetzte, die Teilnahme eines neutralen Staates an einer Organisation, die zur Aufrechterhaltung des Friedens Sanktionen vorsieht, immerhin doch eine Adaptierung des Neutralitätsbegriffes zur Folge. Wenn neutrale Staaten sich von Zwangsmaßnahmen des Völkerbundes gegen einen Friedensbrecher fernhielten, so müßte ihre Haltung zumindest jede Hilfe für denjenigen ausschließen, gegen den die Aktion des Völkerbundes gerichtet wäre. Die Neutralität der Schweiz mußte daher nach ihrem Beitritt zum Völkerbund als differentiell bezeichnet werden. Nur die militärische Neutralität blieb gänzlich unverändert. Auf wirtschaftlichem Gebiet jedoch schuf die Zusammenarbeit der neutralen Schweiz mit dem Völkerbund Komplikationen, die nicht ohne Folgen bleiben sollten.

In diesen für die Schweizer Staatsführung in der Außenpolitik schwierigen Jahren vor dem zweiten Weltkrieg war es vor allem der durch Weitblick, unerschütterliche Ruhe und Stand-haftigkeit hervorragende Bundesrat M o 11 a, der die Neutralitätspolitik in steter Fühlung mit der schweizerischen Volksvertretung und öffentlichen Meinung durch die steigenden Gefahren steuerte.

Zunächst vermochte die Schweizer Regierung den an sie herantretenden Forderungen gerecht zu werden. Der italienische Feldzug gegen Aethiopien stellte jedoch an die Neutralität Zumutungen, die zu Entschlüssen zwangen. Der Artikel 16 der Völkerbundstatuten sah für den Fall des Angriffes auf ein Mitglied des Völkerbundes eindeutig bindende Verpflichtungen zur Teilnahme der übrigen Völkerbundmitglieder an Sanktionen gegen den Angreifer vor. Der Verlauf der Krise brachte jedoch den Beweis dafür, daß sich einige Mitglieder an diese Verpflichtung hielten, andere aber nicht. De facto war damit die Bindung des Artikels 16 außer Kraft getreten und dieser Artikel behielt somit höchstens noch fakultativen Charakter. Für die Schweiz war es unerträglich, praktisch vor die Wahl zwischen der Allianz Paris—London oder der Achse Rom—Berlin gestellt zu werden.

In einer Rede, der eine dauernde historische Bedeutung zukommt und die einen Wendepunkt in der Geschichte der Schweizer Neutralität bedeutet, setzte sich Bundesrat Motta am 22. Dezember 1937 vor der Schweizerischen Bundesversammlung mit der durch den Austritt Italiens aus dem Völkerbund entstandenen Lage auseinander. Italien hatte durch die Sanktionen, denen es, wenn auch nur sehr unvollständig, ausgesetzt gewesen war, die Geduld verloren und war mit dem Austritt aus dem Völkerbund dem Beispiel Deutschlands vom Jahre 193 5, dem einiger südamerikanischer Staaten und schließlich Japans gefolgt. Es ergab sich als Folge dieses Verlustes der Universalität des Völkerbundes für die Schweiz die Notwendigkeit, zur integralen Neutralität zurückzukehren, die Motta vor dem Völkerbundrat am 9. Mai 193 8 bekanntgab.

Das nächste Kapitel in der Entwicklung bildet der Verlauf des zweiten Weltkrieges, in dem die Invasion der Schweiz nur durch die Kampfbereitschaft der Schweizer Armee abgewehrt wurde.

Diese inhaltsschwere Erinnerung wird wohl genügen, um die Ueberzeugung zu rechtfertigen, daß die Neutralität Oesterreichs nicht in höherem Maße vor diplomatischen Verwicklungen gesichert ist als die schweizerische. Es ist im Laufe der neuesten Geschichte der Beweis erbracht, daß es nicht genügt, sich militärisch einwandfrei neutral zu verhalten und sich auch keinem Bündnis anzuschließen, um vor gefährlichen Einwirkungen und Forderungen auswärtiger Machtfaktoren sicher zu sein.

Oesterreich kann daher nicht darauf verzichten, durch eigene Maßnahmen auch juristisch die Neutralität noch genauer zu fassen, wobei auch wieder an die Schweiz zu denken ist, die zuni Beispiel aus Gründen der Neutralität die Beleidigung fremder Staatsoberhäupter strafgesetzlich verbietet. Sn diesem Sinne sind die Ausführungen des Staatssekretärs F. Grüb-hofer über „Neutralität und Staatsschutzgesetz“ besonders zu begrüßen.

In außenpolitischer Beziehung gibt es aber ein Ziel: die besondere Gayantic unseres Staatsgebietes durch die Großmächte, die über unser Schicksal durch den Staatsvertrag wohlwollend entschieden haben, auch wenn ihr Wert im Falle einer Uneinigkeit der Großmächte nicht überschätzt werden darf. Auch die belgische Neutralität war durch Verträge untermauert i Eine derartige Garantie liegt gewiß in weiter Ferne, ist aber als Ziel unserer Außenpolitik nicht nur im Staatsvertrag vorgesehen, sondern auch logisch begründet und vertretbar. Es ist gewiß, daß dieses Ziel nur schwer erreichbar wäre; hat doch sofort nach Abschluß des Staatsvertrages die britische Regierung im Unterhaus auf eine Anfrage, wie nicht anders zu erwarten, eine negative Antwort gegeben. Um so ernster ist dieses Problem für Oesterreichs Zukunft. Die heutige Neutralität Oesterreichs ist für unser Land ein Glück — aber ihre heutige Form ist vorläufig noch eine Art Versicherung gegen Kriegsgefahr in Friedenszeit, nicht aber eine hinreichende Sicherung gegen die Spannungen eines schweren Konfliktes.

Der Weg, der zur gedeihlichen Entwicklung der Neutralität Oesterreichs führt, ist durch die geschichtliche Erfahrung vorgezeichnet. Im Innern bedarf es der energischen Fortsetzung des Aufbaues der Verteidigung und der Popularisierung des erst in seinen Anfangsstadien steckenden Wehrwillens sowie der juristischen Verankerung der staatlichen Neutralität. Beide Maßnahmen können nicht nur den Eindruck im Ausland günstig verstärken, sondern letztere Maßnahme wäre gewiß nützlich, wenn es sich einmal darum handeln sollte, immer mögliche Mißverständnisse, auch solche wenig wohlwollender Art, abzuwehren. Nach außen aber, im Einklang mit der Mitarbeit Oesterreichs an den auch einen neutralen Staat interessierenden Aufgaben der Vereinten Nationen, die in Aussicht genommene Garantierung seines Territoriums zu erwirken, und auch für den Fall von möglichen Spannungen zwischen den Garanten selbst, die anderen durch das eigene Verhalten von der Nützlichkeit des Bestehens eines neutralen Staates in dieser Welt der Unruhe zu überzeugen.

Das so oft mit Füßen getretene gute und verbriefte Recht allein schützt die Neutralität nicht. Der Nutzen, den aus ihrer Wahrung auch die anderen ziehen, und die Unrentabilität ihrer Verletzung erwiesen sich als die im Augenblick der Krise wirksamsten Argumente.

Das gute Recht ist, wie schon so oft, auf unserer Seite; die Verletzung dieses Rechts unrentabel zu machen, ist unsere Aufgabe.

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