"Unsere Regierung schaut zu"

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Sergio Morales leitet die Ombudsstelle für Menschenrechte in Guatemala und ist mit über 11.000 Morden im Jahr konfrontiert.

Die Kriminalität in Guatemala ist nach Angaben des Zentralamerikanischen Instituts für Politische Studien außer Kontrolle geraten. Wie das Institut vergangenen Freitag mitteilte, hat die Staatsanwaltschaft des mittelamerikanischen Landes 2004 insgesamt 11.236 Morde registriert. Insgesamt seien in der Statistik der Generalstaatsanwaltschaft 255.208 Verbrechen verzeichnet.

In Guatemala und in anderen mittelamerikanischen Ländern wird vor allem die Kriminalität von Jugendbanden, den so genannten Maras, ein unübersehbares Problem. In Guatemala seien die Statistiken vor allem von der Polizei geschönt worden, um das Ausmaß der Verbrechen zu verbergen, heißt es in der in Guatemala-Stadt veröffentlichten Studie weiter. So habe die Polizei für das gesamte Jahr 2004 nur 4.507 Morde gemeldet. Sergio Morales, der Leiter der staatlichen (jedoch nicht regierungsabhängigen) Ombudsstelle für Menschenrechte referierte vor der un-Menschenrechtskommission in Genf über die Besorgnis erregende Entwicklung seines Landes. Im Furche-Gespräch erklärt er Hintergründe und Auswirkungen dieser aktuellen Kriminalitätswelle.

Die Furche: Herr Morales, entsprechen die Berichte über den enormen Anstieg der Kriminalität in Guatemala den von Ihnen erhobenen Tatsachen?

Sergio Morales: Ja, jeden Tag werden Menschen umgebracht. An dem Tag, an dem ich in Genf vor der un-Menschenrechtskommission berichtete, wurden wieder drei junge Männer in Amatitlán, unweit von Guatemala Stadt, gefunden. Sie waren gefesselt, hatten Foltermale und einen Gnadenschuss. Jeden Tag werden durchschnittlich 14 Personen ermordet. Und unsere Regierung schaut zu.

Die Furche: Was ist der Hintergrund dieser Gewalt?

Morales: Einer der Gründe ist, dass die Friedensverträge nicht erfüllt worden sind. Dieses 1996 nach 36 Jahren Bürgerkrieg unterzeichnete Friedensabkommen zwischen der Regierung der Guerilla-Organisation urng hatte ja den Zweck, die Ursachen des bewaffneten Konflikts zu beseitigen, die soziale Ungerechtigkeit. Aber es wird alles nur noch schlimmer: In den letzten sechs Jahren hat der Anteil der Armen von 51 auf 57 Prozent zugenommen. Anschaulicher ist vielleicht die Zahl, die Jean Ziegler, der uno-Sonderberichterstatter für das Recht auf Nahrung, genannt hat: von 1999 auf 2002 hat die Anzahl der unterernährten Menschen in Guatemala um eineinhalb Millionen zugenommen. Kein Wunder, dass wieder vermehrt Landbesetzungen stattfinden.

Die Furche: Was tut die Regierung von Präsident Oscar Berger dagegen?

Morales: Sie verschärft alles noch, indem sie die Polizei militarisiert und den sozialen Protest kriminalisiert. Wenn irgendwo demonstriert wird, fließt sehr schnell Blut. In die Polizei sind ehemalige Militärs integriert worden und sie wurde mit Kriegswaffen ausgerüstet. Der schwerwiegendste Zwischenfall ereignete sich letztes Jahr auf der Finca Nueva Linda in der Provinz Retalhuleu an der Südküste. Das war eine Besetzung, die nichts mit Landkonflikten zu tun hatte. Sie richtete sich vielmehr gegen das spurlose und mysteriöse Verschwinden des Verwalters. Die Polizei hat dann unter den Besetzern gewütet. Zwei der insgesamt zwölf Opfer waren Kinder, die anderen wurden zum Teil regelrecht exekutiert, als sie am Boden lagen.

Die Furche: Und die Justiz - was macht sie, um solchen Exzessen Einhalt zu gebieten?

Morales: Nichts. Nach Angaben des Obersten Gerichtshofes werden 99,5 Prozent der Gewalttaten nicht einmal untersucht. Auch die Zahl der mysteriösen Frauenmorde nimmt zu. In den ersten dreieinhalb Monaten dieses Jahres wurden schon 200 Frauen und Mädchen ermordet.

Die Furche: Kann man da ein System hinter diesen Morden erkennen? Gibt es gemeinsame Merkmale?

Morales: Die meisten Opfer sind jung und gingen noch in die Schule oder arbeiteten in einem ausländischen Fertigungsbetrieb. Die wenigsten sind tätowiert, das wäre ein Anzeichen, dass sie zu einer Jugendbande gehörten. Viele dürften aber irgendwie in Kriminalität oder Prostitution verwickelt gewesen seien. Oft werden Frauen eingesetzt, um Entführungsopfer zu bewachen. Dann bringt man sie um, um keine Zeugen zu haben.

Das Gespräch führte Ralf Leonhard.

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