Unsere täglichen Bohnen ...

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Mit spendierten Konserven kommen die Heimkinder von "Assen Zlatarov" noch über den Bulgarischen Winter. An den Frühling will keiner denken, geschweige denn an morgen.

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Mit spendierten Konserven kommen die Heimkinder von "Assen Zlatarov" noch über den Bulgarischen Winter. An den Frühling will keiner denken, geschweige denn an morgen.

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Fünfzehn Augenpaare verfolgen gebannt jene zwei Hände, die flink über die Gitarrensaiten tanzen und dem Instrument bebende Klänge zu John Denvers "Country Roads" entlocken. Nur jenes sechzehnte Augenpaar starrt zwischen die Melodie und das verstaubte Fensterglas hindurch, irgendwohin, weit hinter die Wohnsilos von Sofia hinaus. Irgendwo dort ahnt sich Natalie im warmen Frühlingswind singend, jenseits ihrer eigenen leeren Vergangenheit ohne Familie, ihrer mageren Zukunft ohne Arbeitsplatz, im New Yorker Yankee-Stadium vielleicht vor begeisterten Menschenmassen; und nach dem imaginären Konzert würde sie im eleganten Cocktailkleid Lachs und Champagner genießen ...

"Mittagessen!" kräht jemand vom Gang her. Die schillernden Traumbilder zerplatzen im Tumult der hungrigen Mäuler, die - wie gewohnt - mit Bohnensuppe gestopft werden, dazu eine Scheibe Weißbrot, Krautsalat und Tee. Was kann man schon verlangen vom Leben - im Kinderheim "Assen Zlatarov" am Rande von Sofia?

"Zumindest hungern müssen unsere Sprößlinge nicht!", sieht Zoia Sokolova, Direktorin des Hauses, die Ernährungsmonotonie positiv. Letzten August, als die Lebensmittelhilfe durch das EU-Programm ECU auslief, war die 49jährige Sozialpädagogin ahnungslos, wie sie "ihre" 90 Kinder zwischen sieben und 18 Jahren über den Winter bringen sollte. Die Rettung in letzter Sekunde kam dank der Intervention durch Ministerpräsident Iwan Kostow von Konservenfabriken, die ihre unverkauften Restposten dem Heim überließen.

Äpfel nur sonntags Die Kehrseite dieses Eintopf-Segens ist der horrende Mangel an Frischobst. Äpfel gibt es nur an Sonntagen, Orangen waren die große Weihnachtsüberraschung. Doch ohne Vitamine wird der kleinste Luftzug zur Fieberkeule. Wie durch ein Wunder blieb "Assen Zlatarov" bislang davon verschont, dem Krankenlager zu verfallen, denn eben wird Bulgarien von einer Grippewelle überrollt. Die meisten Heime stehen unter Quarantäne.

Jede Infektion bedeutet zusätzliche Geldsorgen, denn die Zeit der kostenlosen Krankenversorgung in öffentlichen Kliniken ist fast schon Legende. Seit dem Fall des Sozialismus taumelt das bulgarische Gesundheitswesen zwischen Bankrott und gähnender Leere; Medikamente sind vom Patienten selbst beizusteuern. Doch wovon kaufen?

"Geldmangel - nur davon haben wir im Überfluß!" lächelt Zoia. Vor zwölf Jahren hatte sie das Heim als Bruchbude mit dem Ruf einer Räuberhöhle übernommen, doch durch ihr visionäres Engagement und die spendable Hand des Kommunismus erblühte hier rasch eine heimelige Oase für die abgeschobenen, mißbrauchten oder verwaisten Zöglinge der bulgarischen Gesellschaft.

Seit Anbruch der demokratischen Dämmerung bedeutet Zoias Job einen Wettlauf gegen galoppierende Rationalisierungsmaßnahmen, sprich: Finanzkürzungen, die vor drei Jahren in der bulgarienweiten "Privatisierung" der rund 400 Heime gipfelten. Außer den mageren Personalkosten von rund 700 Schilling pro Person hat Vater Staat für seine Kleinen nichts mehr übrig!

Wirtschafts-Desaster "Sponsoren" heißt das Zauberwort! Bloß bleibt Zoia bei aller Verwaltungsarbeit schon kaum die Zeit, sich den Kindern zu widmen - geschweige denn, großherzige Firmen um Butterbrote anzubetteln. Denn die haben andere Sorgen! Bulgariens Wirtschaft ist ein Desaster. Anstatt die Strukturen zu reformieren, investierten die exkommunistischen Eliten ihre Energien in Korruption und organisiertes Verbrechen. An die 50 Milliarden Schilling dürften seit der Wende ins Ausland verschoben worden sein. Andrej Lukanow, Ministerpräsident der Wende, wurde 1996 auf offener Straße erschossen, der Mord ist bis heute unaufgeklärt - einer von vielen ... Der Vertrauensverlust westlicher Investoren ließ Ende 1996 den Lew mitsamt vierzehn Banken kollabieren, mißglückte Getreidespekulationen der sozialistischen Regierung Widenow bescherten der Bevölkerung eine Hungersnot, der Regierung ihren Sturz.

Der erste Silberstreif am düsteren Horizont erschien vergangenes Jahr, nachdem der Lew im Juli 1997 an die Deutsche Mark gekoppelt worden war. Die Wirtschaft wächst nun wieder. Doch wieviel ergibt das Wachstum von Nichts? Geschätzte 30 Prozent der Menschen sind ohne Arbeit, 41 Prozent der Haushalte leben unter dem offiziellen Existenzminimum von 500 Schilling - bei einem Brotpreis von 600 Lewa (vier Schilling). "Reiche Akademiker" verdienen das Dreifache, was gerade genügt, um eine Familie zu ernähren - für Heizung oder Kleidung reicht das Geld noch nicht. Damit stehen die meisten Bulgaren vor der Wahl, zu hungern, zu frieren oder auszuwandern. Oder ihre Kinder ins Heim zu stecken.

Der 14jährige Zlatko war irgendwann auf der Straße eingesammelt worden. Wann und wo er geboren wurde, weiß niemand - was das fröhliche Kerlchen seine neun langen Jahre in "Assen Zlatarov" wenig kümmerte. Doch plötzliche fing er an zu fragen: "Wo ist meine Mutter? Warum besucht mich niemand?"

"Der Schock einer leeren Vergangenheit löst sich zumeist in der Pubertät. Eine schlimme Zeit, wo wir nur beistehen, jedoch nichts ersetzen können. So grausam es klingt: Ein Heim darf kein Zuhause sein. Die Kinder wissen, daß sie mit 18 hinaus in die ungewisse Selbständigkeit ziehen müssen. Eine sinnvolle Vorbereitung dafür wäre unsere eigentliche Aufgabe", erklärt Dacha, eine attraktive Musik-Pädagogin, in glänzendem Deutsch. "Wenn wir die Mittel hätten, könnten wir kleine, eigenverantwortliche Wohngemeinschaften gestalten, in denen die Kinder ihre Hausarbeit selbst erledigen würden. Statt dessen erziehen wir, durch Fesseln der Gesetze und des Mangels gebunden, lebensfremde Nesthäkchen."

Selbständigkeit lernen Mit viel Mühe war der volljährigen Rumiana eine Gemeindewohnung organisiert worden. Bittere Angst vor Waschmaschine und Gasherd prägte ihre anfängliche "Selbständigkeit", ein zersplitterter Teller wurde zum blanken Entsetzen - nach einer Blechgeschirr-Kindheit im Heim.

Dunkle Augen leuchten durchs Fenster ins Direktoren-Zimmer herein. Verzückt schmiegt der siebenjährige Junge einen Welpen an sein Gesicht. Vom Gang her johlendes Gelächter, nebenan trällert Natalie.

"Selbstwertgefühl und Lebensfreude - trotz allen Mangels - ist das wichtigste für unsere Sprößlinge. Das funktioniert hier, doch in der öffentlichen Schule werden die Kinder als âHungerleider' stigmatisiert - auch von Lehrern, die sie für jeden Zwischenfall verantwortlich machen. Ein falsches Wort des Lehrers kann wochenlange Aufbauarbeit zunichte machen", beklagt Mitko, der Lieblingsbetreuer der Kinder. "Dabei schlummern in unseren Kindern großartige Talente. Natalie komponiert, und der 15-jährige Boris malt. Vom Verkauf seiner Bilder finanzierte er das Material für die Gestaltung einiger Zimmer. Hier gedeiht die Zukunft Bulgariens!"

Der Autor ist leitender Redakteur der Internet-Zeitschrift "zum Thema:" (http://www.zum-thema.com).

Information: Hilfsprojekt "Kindheits-Los - Kinderheim Sofia" Bei ihrem Heimatbesuch im Sommer 1998 kam die Grazer Studentin Valeria Jantscheva mit dem Kinderheim "Assen Zlatarov" in Kontakt. Ruhelos geworden, begann sie, Zoia Sokolova, die Direktorin, bei ihrer Suche nach Sponsoren zu unterstützen - und stieß beim Katholischen Akademikerverband der Diözese Graz-Seckau auf offene Ohren. Das Projekt "Kindheits-Los - Kinderheim Sofia" wurde geboren. Gemeinsam mit der Katholischen Hochschuljugend wurde eine langfristige Spendenaktion mit dem Ziel initiiert, die Nahrungsmittelversorgung der Kinder von "Assen Zlatarov" zu unterstützen.

Der Aufbau eines Informationsnetzwerks mit engagierten Organisationen in Österreich soll die Betreuer-Weiterbildung im Ausland ermöglichen und auch zu Austauschprogrammen für Renovierungsarbeiten führen.

Wer gezielte persönliche Hilfe leisten will, kann auch die Patenschaft für ein Kind übernehmen, indem dessen gesamter Lebensunterhalt (öS 1.500,-/Monat) oder ein bestimmter Bereich (z. B. Ausbildung öS 175,-/Monat) bis zur Volljährigkeit finanziert wird. Selbstverständlich stehen dem persönlichen Kontakt alle Tore offen.

Ein aktueller Anlaßfall wäre das Schicksal von Daisy und Emmy Slava. Nach dem Tod ihres behinderten Vaters wurden die Mädchen im Heim betreut. Durch Zoias hartnäckige Intervention konnte ihnen der Anspruch auf die Gemeindewohnung des Vaters gesichert werden - vorausgesetzt, sie würden die hinterlassenen Schulden von 8.000 Schilling an Betriebskosten begleichen. Gelingt das nicht, droht den Mädchen bei Volljährigkeit die Straße.

Spenden werden höflichst erbeten auf das PSK-Konto 7925700 (BLZ 60000) (Caritas der Diözese Graz-Seckau), Kennwort "Kindheits-Los Kinderheim Sofia".

Fragen beantwortet gerne Frau Waltraut Jürgens von der Katholischen Aktion (Tel./Fax 0316-8041-262), die auch über die genaue Verwendung der Spendengelder Rechenschaft ablegt.

Ein Dia-Vortrag über das Kinderheim "Assen Zlatarov" und Sofia bzw. das Rila-Kloster findet am 18. April um 19.30 Uhr in der Katholischen Hochschulgemeinde, Leechgasse 24, in Graz statt. H. F.

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