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Zwanzig Jahre nach dem Mauerfall scheint sich das Bewusstsein für die Brutalität des real existierenden Sozialismus weitgehend verflüchtigt zu haben. „Es war ja nicht alles schlecht“, denken heute wohl viele …

Der Mensch ist frei geschaffen, ist frei, / Und würd’ er in Ketten geboren; / Laßt euch nicht irren des Pöbels Geschrei, / Nicht den Mißbrauch rasender Thoren!

Friedrich Schiller (* 10. November 1759), aus: Die Worte des Glaubens

Die Feiern zum zwanzigsten Jahrestag des Mauerfalls sind vorüber, die Reden gehalten, die Bilder um die Welt gegangen. Alt sind sie geworden, die Protagonisten von einst – wie Kohl, Gorbatschow, Walesa – oder schon tot – wie Wojtyla oder Reagan. Eine Generation ist abgetreten, die auch in historischer Perspektive wusste, was auf dem Spiel stand; was Krieg, Diktatur, Unterdrückung, Unfreiheit bedeuten – und wie schwierig und kostbar zugleich die Erringung und Bewahrung von Frieden, Freiheit und Wohlstand sind. Das Bild des an den Rollstuhl gefesselten, kaum artikulationsfähigen Altkanzlers Helmut Kohl symbolisierte diesen Wandel vielleicht am eindringlichsten.

Mauerfall als fröhliches Event

Zwanzig Jahre danach gerät der Mauerfall zum fröhlichen Event – als Fall von entlang der Ost-West-Grenze aufgestellten überlebensgroßen Domino-„Mauer“-Steinen, angestoßen von Lech Walesa. Das ist nichts Schlechtes, und man kann darin auch eine hohe Symbolkraft erkennen. Aber die Kettenreaktion, an deren Ende – ausgehend von der polnischen Solidarno´s´c über Gorbatschows Glasnost & Perestrojka bis zur deutschen Wiedervereinigung – die Aufhebung der Teilung Europas stand, diese Kettenreaktion war dramatischer, wenngleich zum Glück weitgehend unblutiger Ernst. Es war ein Prozess mit ungewissem Ausgang, den man, je nach Standpunkt, als Wunder, Geschenk oder Ergebnis ökonomischer Vernunft deuten kann. Vermutlich ist es von allem etwas.

Der Kapitalismus hat nicht gesiegt, er ist nur übriggeblieben: Dieses Diktum, wiewohl nicht mehr ganz taufrisch, spiegelt dennoch weitgehend ungebrochen den Mainstream der allgemeinen Bewusstseinslage wider – wobei sich hier Intelligenz und Stammtisch in seltener Allianz finden dürften. Damit wird freilich unterstellt, es handle sich bei Kommunismus und Kapitalismus um zwei „Systeme“, von denen das eine mehr oder weniger zufällig (oder aufgrund des Wirkens dunkler Mächte) früher gescheitert ist. Wobei vielfach dem einen „System“, dem Kommunismus, zugutegehalten wird, im Prinzip das Richtige gewollt, das dann aber nicht auf den Boden gebracht zu haben. Blöd gelaufen eben. Während das andere, der Kapitalismus, schon strukturell mindestens als menschenfeindlich gilt (und damit das auch jedem klar ist, sagt man gleich lieber „Kapitalismus“ als „Marktwirtschaft“).

In Wahrheit ist es – fast – umgekehrt. Im Unterschied zum Kommunismus ist eine ordoliberale Marktwirtschaft nämlich kein System im Sinne einer geschlossenen, totalitären Heilslehre, die den einzelnen in ihre Struktur zwingt. „Wir dürfen gar nicht säumen, dem Staate liegt daran, den bösen Untertan schnell aus dem Weg zu räumen.“ (Beethoven, „Fidelio“, 1. Akt): Das ist die brutale Logik aller Diktaturen. Demgegenüber ist das „westliche“ Modell von Demokratie, Rechtsstaat und Marktwirtschaft der Versuch, mittels Spielregeln dem Prinzip Rechnung zu tragen, wonach die eigene Freiheit ihre Grenzen an der des anderen hat.

Bewachte Sicherheit

Über die Ausgestaltung dieser Spielregeln kann man unterschiedlicher Ansicht sein. Das verweist auf die genuine Aufgabe von Politik. Letztlich geht es dabei immer um das Austarieren des sensiblen Verhältnisses von Freiheit und Sicherheit. In unseren saturierten Gesellschaften neigen wir freilich dazu zu vergessen, wovor Imre Kertész gewarnt hat: vor der Illusion, irgendjemand könnte uns die Verantwortung für unser Leben abnehmen. Dies sei eine Falle, in die man sich freudig hineinbegebe, ohne zu bemerken, „dass die Sicherheit, die man erhält, mit Stacheldraht bewacht wird“. Die Freiheit bleibt riskant und immer unvollendet – aber alle Versuche, sie zu unterdrücken, müssen früher oder später scheitern.

* rudolf.mitloehner@furche.at

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