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Unzumutbar, weil völlig unverständlich

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Der Satz „Unkenntnis des Gesetzes schützt nicht vor Strafe” müßte eigentlich längst seine Gültigkeit verloren haben. Von der Sozialversicherung über Mieten, Gesundheitswesen, Schulen, Lehrlingsausbildung, Steuerrecht, viele Rereiche der Gewerbeausübung und neuerdings Umweltschutz bis hin zum Verkehrswesen, zur Bautätigkeit und in die Familien gibt es eine nicht mehr überschaubare Zahl von Gesetzen und darauf aufbauenden Vorschriften. Natürlich darf man keines dieser Gebiete der Willkür überlassen. Das Schlimme ist nur, daß die Materien meist bis ins Kleinste geregelt sind, daß die Übersichtlichkeit völlig verlorenging und manche Vorschriften einander widersprechen.

„Die einfache Vorstellung, mehr Gesetze würden zu größerer Gerechtigkeit und damit zu mehr Zufriedenheit unter den Bürgern führen, hat sich als Illusion erwiesen”, schreibt der Rechtswissenschaftler Theodor Tomandl. Er kritisiert die Fülle rechtlicher Normen, denn darauf antworten die Rürger mit Rechtsverweigerung. Er prangert die sprachlichen Mängel vieler Gesetze an, ihren oft unklaren oder unverständlichen Text, die Flucht in Detailbestimmungen, woraus sich Normwidersprüche, aber auch Regelungslücken ergeben.

Je mehr und je umfangreichere Gesetze das Parlament beschließt, umso größer wird die Gefahr, daß die Abgeordneten die vorgelegten Entwürfe übernehmen, ohne deren Inhalt wirklich zu erfassen. „Das Gesetz sollte schlank sein. Es sollte eindeutig erkennen lassen, welche Ziele es verfolgt und auf detailreiche Ausführungen verzichten.”

Tomandl ist nicht der einzige, der die überquellende, längst nicht mehr überschaubare Flut gesetzlicher Normen als Gefahr für das Rechtsverständnis ansieht. Der Wiener Rechtsanwalt und Verfassungsrichter Kurt Heller hat vor einiger Zeit an scheinbar amüsanten, letztlich aber geradezu beschämenden Beispielen nachgewiesen, wie das Bundesgesetzblatt ausgeufert ist. Es umfaßt Jahr für Jahr fast 10.000 Seiten; für die Wiedererrichtung des demokratischen Österreich fand man 1945 noch mit 428 Seiten das Auslangen. Es befaßt sich sogar ausführlich mit Latzhosen. Obwohl das Bundesgesetzblatt in deutscher Sprache herauszugeben ist, finden sich zahllose Seiten in kyrillischer oder arabischer Schrift. Kein Wunder, daß sich die Durchschnittsbürger, häufig sogar Rechtsanwälte, nicht zurechtfinden: „Wir leben nicht mehr im Banne des physisch Stärkeren, sondern des rechtlich Stärkeren.”

Das Allgemeine Sozialversiche-rungsgSsetz ist seit 1955 so oft novelliert worden, daß auch Fachleute sich kaum mehr darin zurechtfinden. Im Sozialrechtsänderungsgesetz 1991 heißt es in Art. I, 1: „1 a) Im 95, Abs. 1 entfällt der 2. Satz; b) im 95, Abs. 2 wird der Ausdruck, 90a, 90 und 95' durch den Ausdruck, 90a und 90' ersetzt.” In dieser Tonart geht es elf Seiten lang weiter!

Selbst das Bundes-Verfassungsgesetz ist schon weit über vierzigmal novelliert worden. Gerade jetzt denkt man wieder an den Beschluß neuer verfassungsrechtlicher Bestimmungen. Dieser Zustand widerspricht eindeutig den rechtsstaatlichen Anforderungen an den leichten Zugang zum Recht, meint Tomandl.

Wie könnte man dem in der Praxis begegnen, gesetzliche Regelungen mit der notwendigen Zweidrittelmehrheit in den Rang von Verfassungsbestimmungen zu erheben und sie dadurch etwaigem Widerspruch des Verfassungsgerichtshofes zu entziehen? Wenn ein Land eine neue Verfassung bekommen soll, wird meist eine verfassunggebende Versammlung bestellt, die sich anschließend wieder auflöst. Warum, fragt Tomandl. Eine eigenständige, vom Parlament getrennt arbeitende verfassunggebende Versammlung könnte, meint er, zu einer Dauereinrichtung werden. Sie wäre vom Nationalrat im Verhältnis der dort vertretenen Parteien zu beschicken, die auf Zeit bestellten Mitglieder müßten aber sämtliche Parteifunktionen niederlegen, wie beim Verfassungsgerichtshof oder bei der Volksanwaltschaft. So könnte sie dem unmittelbaren Einfluß der Parteien entzogen werden. Das Verfassungsbewußtsein würde wiederbelebt.

Ob die großen Parteien mit einer solchen Regelung einverstanden wären, ist fraglich. Wer gibt schon gern Machtpositionen auf? Aber im Rechtsstaat muß es hohe Ämter geben, deren Ausübung zumindest nicht unmittelbar von den politischen Parteien beeinflußt werden kann. Ein Beispiel dafür ist der Bechnungshof.

„Es wäre verhängnisvoll, das Modell des Rechtsstaates wegen seiner Fehlentwicklungen und Mängel zu verwerfen ... Jede Institution - und damit auch der Rechtsstaat - hat von Zeit zu Zeit einen Überholungsbedarf.” Das sind die Schlußfolgerungen des Autors. Und: „Ein Rechtsstaat darf bei aller Sorge für den einzelnen die Interessen der Gesamtheit nie aus den Augen verlieren ... Rechtsstaat ohne rechtsbewußte Bürger ist eine ebensolche Illusion wie Demokratie ohne Demokraten.” Das geht nicht nur Politiker und Juristen an, sondern alle, denen die Geltung des Rechts am Herzen liegt.

Ein gut lesbares Ruch mit gut durchdachten Vorschlägen.

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