Venezuelas doppelte Wirklichkeit

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Hugo Chavez# Herrschaft steht bei der Parlamentswahl am Sonntag nicht zur Diskussion. Doch seine Schar bedingungsloser Anhänger schwindet.

Die Universitätsklinik in Caracas gehört zu den größten Spitälern Venezuelas und zu den besten. Der Bau aus den 1950er-Jahren verspricht solide medizinische Betreuung. Man sieht keine doppelt belegten Betten oder verzweifelte Angehörige, die niemanden finden, der sich um ihren Kranken oder Verletzten kümmert. Dennoch müssen jeden Tag Patienten abgewiesen werden. #Wir müssen viele wegschicken#, seufzt der Urologe Jon Gárate, #es wird viel Gerät der allerneuesten Technologie angeschafft. Aber durch den steten Gebrauch oder auch den unsachgemäßen Umgang gehen sie bald kaputt.# Dass sie nicht gleich repariert werden, liegt daran, dass das technische Personal fehlt. So landen viele Patienten in Privatkliniken, wo sie kräftig zur Kasse gebeten werden.

Kaum Nachhaltigkeit

Der Zustand des öffentlichen Gesundheitswesens ist symptomatisch für die Entwicklung in Venezuela. Es wird viel Geld in staatliche Leistungen investiert, doch die Nachhaltigkeit lässt zu wünschen übrig. Echte Reformen sind bisher ausgeblieben. Vielmehr wurden die sogenannten Misiones, die unter Hugo Chávez als vorübergehende Einrichtungen geschaffen wurden, um Defizite der Bildung, der Gesundheitsversorgung und anderer sozialer Dienste auszugleichen, zu dauerhaften Parallelstrukturen. Bei den Misiones wird alphabetisiert, Volks- und Mittelschulunterricht für Erwachsene ermöglicht; kubanische Ärzte betreiben Vorsorgemedizin und ordinieren in den Armenvierteln, es werden Lebensmittel verteilt und Häuser repariert. Der Lebensstandard in diesen Vierteln, wo mehr als die Hälfte der Bevölkerung lebt, ist spürbar gestiegen. Nelly Villamizar, schwergewichtige Bewohnerin des Stadtteils Andrés Eloy Blanco in Caracas hat gerade die Matura gemacht: mit 50 Jahren, fast gleichzeitig mit ihren Kindern. Die Inflation von 30 Prozent, die sich besonders auf Nahrungsmittel auswirkt, spürt sie kaum. Denn in ihrem Viertel gibt es staatlich gestützte Waren.

Ohne die sprudelnden Einnahmen aus dem Erdölexport wäre es nicht möglich, solche Einrichtungen zu finanzieren. Sollte der Ölpreis sinken, könnte es daher knapp werden. Denn die hochfliegenden Pläne, mit denen Hugo Chávez vor bald zwölf Jahren antrat, sind grandios gescheitert. Er wollte die Wirtschaft auf eine breitere Basis stellen, die Abhängigkeit vom Öl verringern und die landwirtschaftliche Produktion wiederbeleben. Der Wirtschaftsforscher José Manuel Puente beruft sich auf offizielle Zahlen, wenn er nachweist, das die Abhängigkeit vom Öl in den letzten zehn Jahren dramatisch zugenommen hat: #1999 machten Venezuelas Ölexporte noch knapp 80 Prozent der Gesamtausfuhren aus. Jetzt sind es fast 95 Prozent.# Die Industrie sei systematisch zerstört worden # aus politischen Gründen. Denn in der Regierung gebe es Leute, die den von Chávez ausgerufenen Sozialismus des 21. Jahrhunderts #auf den Trümmern der kapitalistischen Wirtschaft errichten wollen#. Die Folge sei eine Rezession, verstärkt durch den nach dem Boom vor zwei Jahren wieder gesunkenen Ölpreis. So wird Venezuela neben dem von einem Erdbeben verwüsteten Karibikstaat Haiti das einzige Land des Kontinents sein, dessen Wirtschaft heuer nicht wächst. Die Wirtschaftsmisere wird durch das Chaos bei den Wechselkursen noch verstärkt. Neben dem offiziellen Kurs von 2,60 Bolívares pro US-Dollar gibt es den Ölkurs von 4,30 : 1, den offiziellen Parallelkurs von etwa 8 : 1, zu dem Unternehmer ihre Devisen einkaufen können, und den Schwarzmarkt, der noch darüber liegt. Gegen importierte Billiggüter sind nationale Produzenten, die keinen Zugang zum privilegierten Wechselkurs haben, machtlos.

Gewalt im Überfluss

Die Parlamentswahlen am 26. September werden aber nicht durch die wirtschaftlichen Misserfolge entschieden. Dominierendes Thema ist vielmehr die ausufernde Gewaltkriminalität. Jede und jeder hat eine Geschichte zu erzählen: Der Raub des Autos auf offener Straße gehört noch zu den harmloseren Episoden, wenn dabei kein Blut fließt. In vielen Vierteln regieren die Banden. Kidnapping ist ein florierender Geschäftszweig. An der Grenze zu Kolumbien verbreiten rechte Paramilitärs, die den Schmuggel kontrollieren, Angst und Schrecken. In manchen Gemeinden gehen linke Guerilleros aus dem Nachbarland aus und ein. Vor der Justiz müssen sich Verbrecher nicht fürchten, denn weniger als vier Prozent der Delikte werden aufgeklärt, die meisten nicht einmal untersucht. Sollte die Polizei doch einmal eingreifen, dann riskieren es viele Verbrecher lieber, im Feuergefecht auf der Straße zu fallen, als in ein überfülltes Gefängnis gesteckt zu werden. Dort sterben jedes Jahr zwischen 400 und 500 Häftlinge durch Schuss- oder Stichwaffen.

Manche Stadtviertel, wie Andrés Eloy Martínez, erscheinen demgegenüber wie geschützte Räume. Die Bürgerräte funktionieren. Die Partizipation hat das Selbstbewusstsein der Armen gestärkt. Der Ausdruck Elendsviertel trifft längst nicht mehr zu. Sollte die Opposition eines Tages gewinnen, so fürchtet auch Nelly Villamizar, dass all diese Errungenschaften wieder verloren gehen könnten. Schon deswegen wird Hugo Chávez wohl noch lange regieren.

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