Verfreundete Zivilisationen

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Mögen die Differenzen zwischen Europa und Amerika auch noch so groß sein. Im Zweifelsfall lebt es sich im amerikanischen Imperium besser als im chinesischen.

Ein bisschen Antiamerikanismus hat immer zu Europas Selbstverständnis gehört. Amerikaner seien schießwütig, fett und ignorant. Das sind sie natürlich. So wie viele Europäer, die sich zwar ihre Schießwütigkeit in den letzten Jahrzehnten abgewöhnt haben, aber, empirisch gesehen, nicht weniger ignorant sind und auch immer fetter werden. Die Aversion gegen die USA speist sich aus der Mentalität von "Vasallenstaaten“ gegenüber dem Zentrum des Empires, und sie dient der Selbstvergewisserung: Die stolzen Machthaber können noch weniger schreiben und rechnen als unsere Nachwachsenden. Das beruhigt die Insassen der Peripherie. Auch europäische Kultiviertheit wird häufig ins Treffen geführt; besonders von Leuten, die schon Jahre kein Museum von innen gesehen haben und jedenfalls nicht wissen, dass amerikanische Bibliotheken, Museen, Galerien und Orchester manches vom Besten bieten, was auf der Welt zu haben ist. Dazu kommt die global erfolgreiche Jazz- und Popkultur, in allen Facetten: Man mag sie verachten, aber das beantwortet nicht die Frage nach ihrer überwältigenden globalen Attraktivität. Die militärische Stärke der USA kann es in diesem Fall nicht sein.

Dennoch steht man zuweilen an der atlantischen Küste, schaut hinüber und stellt aus Europa-Perspektive nicht zu Unrecht fest: Die spinnen, die Amerikaner. Sozialstaatsverwöhnte Europäer fassen sich an den Kopf über die Auseinandersetzung um die öffentliche Krankenversicherung: Warum sollte eine solche Versicherung nackter Kommunismus sein? Warum ist es freiheitsberaubend, wenn man für den Zahnarztbesuch nicht direkt zahlen muss? Warum wüten Niedrigeinkommensbezieher, die davon nur profitieren, gegen ein solches Modell? Ein gewisses Befremden lösen auch Bilder des Wahlkampfes aus: ein plutokratisches System, in dem Geld regiert und "Korruption“ institutionalisiert ist. Zuerst die Wahlkapitulationen, dann die Wahlen. Die amerikanische Verfassung ist ohnehin so gebaut, als ob man Politikmachen überhaupt hätte verhindern wollen. Dennoch muss man sich auf die Zunge beißen: Europäer sind nicht unbedingt geeignet, die Amerikaner über Demokratie zu belehren.

Europa - die sonderbare Landschaft

Für viele Amerikaner ist umgekehrt Europa eine sonderbare Landschaft: sklerotisch, etatistisch, kulturell bewundernswert, aber bewohnt von unverstehbaren Völkerschaften, die alle paar Jahrzehnte mörderisch übereinander herfallen. Auch im aktuellen Wahlkampf kommt antieuropäisches Ressentiment hoch. Einerseits wegen Obamacare und derlei Unanständigkeiten aus der europäischen "Giftküche“, andererseits wegen vermeintlicher europäischer Nachlässigkeit bei der Bekämpfung der Wirtschaftskrise. Letzteres verschlechtere die Wahlchancen des amtierenden Präsidenten, und somit wird die Situation als keynesianische definiert, was sie nicht ist. Da verlangt man plötzlich stärkeren Interventionismus, in Europa, wohlgemerkt, und speziell die Deutschen sollen zahlen - zumindest bis zur US-Wahl. Die Europäer wieder haben das Gefühl, dass sie sich von jenen, die die ganze Misere verschuldet haben und noch immer nicht gegen ihre Kapitalbesitzer vorgehen wollen, nicht unbedingt erklären lassen wollen, was wirtschaftspolitisch geboten ist. Denn die amerikanische Wirtschaft ist strukturell alles andere als in einem guten Zustand: Haushaltsdefizit, Schuldenstand, prekäre Infrastruktur, Qualitätsmängel. Von denen lassen wir uns nichts sagen, in Euroland: von denen an der "Ostküste“ oder von den Ratingagenturen.

Geschichtlich handelt es sich wohl um Geist von unserem Geiste, aber mittlerweile haben sich die Kulturen so auseinander-entwickelt, dass man - genau genommen - von unterschiedlichen "Zivilisationen“ reden müsste. Es geht um ein anderes Bild von Mensch, Gesellschaft, Staat, Welt und Kosmos. Für Europäer ist es unfassbar, dass Amerikaner noch immer an den American Dream glauben, wider alle Realität. Die USA rechtfertigen damit jede Polarisierung von Einkommen und Vermögen, Verhältnisse wie sonst nur in Entwicklungsländern. Die empirische Wahrheit ist: Die Mobilität ist in den USA, entgegen dem Vorurteil, nicht höher als in Europa. Die Mittelschicht ist in Erosion (und drückt ihre Dienstleister weiter nach unten). Dennoch rechnet sich jeder Mindestlohnbezieher die besten Chancen aus. Das Ressentiment gegen "die da oben“, die trotz Krise ihre Einkommen exorbitant steigern und nicht einmal Steuern zahlen, ist in den USA nicht verallgemeinerungsfähig, weil jeder hofft, irgendwann auch dort anzukommen. Das Ressentiment gegen "die da unten“ ist hingegen gut entwickelt. Die Europäer bauen - in jeder Hinsicht - auf das solide Mittelmaß.

Das Klischee lebt: europäische Dekadenz und Unterwürfigkeit gegen amerikanischen Anti-Etatismus und Freiheitsdrang. Die Europäer halten es eher mit dem alten Diktum, es sei keine Freiheit, sich die Brücke aussuchen zu dürfen, unter der man schlafen kann. Für Amerikaner ist jeder Obdachlose ein moralischer Versager. Doch im Bewusstsein seiner Bewohner ist Amerika trotz aller sozialen Verwerfungen "fair“. Die Amerikaner glauben an ihre Freiheit, die Europäer an ihre Sicherheit, und beide täuschen sich. Die Oberklasse sahnt ab, die hoch qualifizierten "Symbolanalysten“ stehen sich überall gut und die schlecht Qualifizierten sacken ab, hüben und drüben, nur drüben schneller.

Gegenseitige Unvorstellbarkeiten

Das Auseinanderdriften verlief früher entlang rassischer Linien, heute flüchten sich die Armen auf die Mobile-Home-Plätze, die Besitzenden verbarrikadieren sich in ihren bewachten Communities. Deshalb braucht es Investitionen in die Aufrechterhaltung einer (irrealen) meritokratischen Ideologie. Europäer bekommen bis zu zwanzig Urlaubstage garantiert, unfassbar für Amerikaner, die sich über zehn Tage freuen und diese oft nicht in Anspruch nehmen können, die drei Jobs haben und damit nicht leben können, die dennoch europäische Staatsanteile, mit annähernd 50%, für blanken Bolschewismus halten. Sie freuen sich, dass ihnen mehr in der Tasche bleibt, obwohl sie das Geld für ineffiziente Gesundheits- und Bildungsleistungen und andere überflüssig-kostenträchtige Lebensumstände wieder ausgeben müssen. Den Europäern wieder sind die Dritte-Welt-Szenarien, gleich um die "offizielle“ Ecke, unheimlich: die Bilder von verrotteten Fabrikshallen, verrosteten Reklameschildern, Dreck und Gerümpel, zugenagelten Fenstern. Nicht nur Einsamkeit, sondern Verlorenheit, Tristesse. In der Einöde verkommene Baracken - da kann man sogar nachempfinden, dass die Leute hier eine Waffe im Haus haben wollen.

Die ferne Besichtigung des Wahlkampfs baut die "exotischen“ Eindrücke nicht ab. Handlungsunfähige Politik, Verzicht auf jede substanzielle Diskussion - das haben wir auch in Europa. Aber fast unerklärlich ist die Entwicklung vom traditionellen Pragmatismus zur emotionellen Aufladung des politischen Prozesses: Überall sonst ist Hate Speech tabuisiert, nur nicht in der Politik. Die von allen "demokratischen Tugenden“ entleerte zynische Strategie der Republikaner ist zum Höhepunkt gediehen: Wenn man alles blockiert, kann man dem Präsidenten Untätigkeit in die Schuhe schieben. Unter diesen Umständen ist es irritierend, dass überhaupt etwas funktioniert. Da steht man also an der atlantischen Küste, schaut hinüber, hält die transatlantischen Freunde irgendwie für verrückt und muss dennoch bekennen: Im Zweifelsfall lebt es sich, so wie die Dinge stehen, besser in einem amerikanischen als in einem chinesischen Imperium; denn das Letztere könnte uns in der zweiten Jahrhunderthälfte ja auch noch ins Haus stehen.

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