Verlassen in Afghanistan

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Lange haben die Afghanen auf den wirtschaftlichen Aufschwung gewartet. Nun ortet die Weltbank nach Jahren der Stagnation einen Wachstumsschub. Doch der Krieg gegen die Taliban bedroht den kleinen Fortschritt, während die Ziele des Westens – Demokratisierung und Implementierung der Menschenrechte – verloren gehen.

Es sind weniger Kampfszenen oder ausgebrannte Armee-LKW-Kolonnen, die den Frust der US-Truppen in Afghanistan auf den Punkt bringen, als vielmehr der Titel eines scheinbar lustigen Videos, in dem Afghanistan-Soldaten hopsend und travestierend das Lied einer US-amerikanischen Popsängerin nachstellen. Es heißt: „Going Gaga in Afghanistan“ - und ist derzeit ein Renner auf der Videoplattform YouTube.

Unter diesem Titel ließen sich auch die Äußerungen des US-Oberkommandierenden Stanley McChrystal und seiner Stabsoffiziere zusammenfassen, die gegenüber einem Reporter des Magazins Rolling Stone gegen ihre politischen Kommandeure in Washington vom Leder zogen. Barack Obama wurde da „Jüngchen“ genannt, Vizepräsident Jo Biden als „Leck mich“ verballhornt. Obama versetzte daraufhin McChrystal in den sofortigen Ruhestand. Seither aber steigen Befürchtungen, die Äußerungen könnten viel mehr sein als nur einmalige Ausrutscher alkoholisierter Krieger. Viel eher die Ausgeburt des Systems namens „Gaga in Afghanistan“.

Denn tatsächlich stehen die von den USA kommandierten rund 90.000 Soldaten zählenden NATO-Truppen schon seit Monaten auf verlorenem Posten. Die jüngste Offensive bei Marja im Süden des Landes, die einen entscheidenden Vorstoß gegen die Taliban erbringen sollte, entpuppt sich, wie der geschasste General es selbst ausdrückte, als „blutendes Geschwür“. Im Rest des Landes verschlechtert sich die Sicherheitslage rapide: Die Bombenanschläge nahmen seit Beginn des Jahres um 94 Prozent zu die Zahl der Mordanschläge gegen Staatsvertreter stieg um die Hälfte an, die UNO zählt drei Selbstmordanschlägen pro Woche allein im Süden des Landes. 2009 bilanzierte die NATO 960 militärische Zwischenfälle pro Monat, Tendenz steigend.

Über 1000 Tote

Über 1000 US-Soldaten sind seit Beginn der Kriegsoperation mit dem Namen „Enduring Freedom“ getötet worden, 6000 wurden verletzt. Juni war überhaupt der verlustreichste Monat seit 2001.

Vor diesem Hintergrund erscheint der von Obama, aber auch von anderen NATO-Alliierten wie Deutschland angestrebte Truppenabzug ab Juli des kommenden Jahres illusorisch. Das auch zumal nun offenbar wird, dass die Taliban aus Quellen des pakistanischen Geheimdienstes reichlich mit Waffen, Trainingsmöglichkeiten und Informationen versorgt werden und damit weiter denn je von der Kapitulation entfernt sind, wie eine aktuelle Studie der London School of Economics feststellt.

Die UNO hat aufgrund der prekären Situation im Juni begonnen, Mitarbeiter aus dem Land abzuziehen und auch die Hilfsorganisation Ärzte ohne Grenzen berichtet von einer sich rapide verschlechternden Lage (siehe Interview).

Dabei hätte die wirtschaftliche Lage des Landes eigentlich Anlass zur Ermutigung gegeben. Ein aktueller Bericht der Weltbank spricht von einem „breiten Wirtschaftsaufschwung“. Trotz der seit 2009 massiver werdenden Angriffe der Aufständischen ist demnach das Bruttoinlandsprodukt um 22,5 Prozent gewachsen. Einer Steigerung von zehn Prozent der Staatsausgaben stehen 16 Prozent mehr Einnahmen gegenüber. Ungewöhnlich für ein Land im Kriegszustand, hält die Inflation mit insgesamt nur zwei Prozent europäisches Niveau.

Ein Erfolg freilich, der weitestgehend mit Mitteln aus dem Ausland finanziert wird. Erst im Jänner erbrachte eine internationale Geberkonferenz für Afghanistan in London die Summe von 1,6 Milliarden US-Dollar, die vom Internationalen Währungsfonds und der Weltbank nun in Hilfsprojekte gegossen werden soll. Geht es nach der Papierform, dann stimmen sogar die Sicherheitspläne optimistisch. Bis kommendes Jahr sollte demnach die Zahl der afghanischen Truppen auf 170.000 anwachsen, jene der Polizeikräfte auf 134.000.

Eine ganz andere Perspektive eröffnet allerdings die Armutsstatistik. Insgesamt 36 Prozent der Bevölkerung leben unter der absoluten Armutsgrenze, also von weniger als einem US-Dollar pro Tag. In den Bergregionen an der Grenze zu den zentralasiatischen Staaten steigt diese Zahl auf es bis zu 76 Prozent der Bewohner.

So ehrgeizig auch die Pläne der Alliierten 2001 gewesen sein mögen, so nüchtern muss nun auch das vorläufige Ergebnis der politischen Reformen im Land gesehen werden. Die Gleichstellung der Frauen gegenüber den Männern ist weiterhin illusorisch und einzelne derzeit in Begutachtung befindliche Gesetzesvorlagen unterschreiten sogar das Niveau der Taliban-Gesetze.

Entrechtung der Frauen

So sollen schiitische Frauen per Gesetz dazu verpflichtet werden, vier Mal pro Woche Sex mit ihrem Mann zu haben. Ehemänner sollen künftig auch den Ausgang der Frau verbieten können. Außerdem soll künftig der Mann darüber entscheiden, ob seine Frau arbeiten darf oder nicht. Der Politiker, der diese Gesetze bereits unterschrieben hat, galt früher dem Westen als Garant für Demokratie und Menschenrechte: Präsident Hamid Karsai.

Karsais Bruder Wali personifiziert ein weiteres, schwer auf dem Land lastendes Problem: die Korruption. Geschützt durch seinen Bruder und unfreiwillig auch durch die NATO hat sich Wali zum Herrscher von Kandahar aufgeschwungen. Sein Reich regiert er mit Gewalt und Drogenhandel. „Bei solchen Freunden“, so ein Militärstratege der CIA, „darf sich der Westen nicht wundern, wenn jüngere Afghanen in Scharen zu den Taliban überlaufen.“ „Going Gaga in Afghanistan“ gilt längst nicht mehr nur für US-Truppen.

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