Verschleppte Sklaven

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Das Herumziehen liegt den Roma nicht im Blut – neue Forschungen zeigen: Das unstete Leben dieses Volkes ist eine aufgezwungene Last.

Dass Indien das Herkunftsland der Roma ist, darüber herrscht in der Wissenschaft schon seit Ende des 18. Jahrhunderts Einigkeit. Wann genau, warum und wie sie allerdings aus Indien in ihre heutigen Verbreitungsgebiete gelangten, darüber gibt es bisher unterschiedliche Theorien.

Nach den Forschungen der französischen Linguistin Elisabeth Clanet, Romanes-Absolventin des Pariser Instituts für orientalische Sprachen und Kulturen und Bildungsbeauftragte für Nichtsesshafte und Roma am nationalen Zentrum für Fernunterricht, sind die Roma nicht aus Indien ausgewandert, sondern als Sklaven verschleppt worden: „Die Roma hätten nie aus eigenem Antrieb Indien verlassen, das für sie als Hindus ein heiliges Land war. Damit wären sie aus dem Kastengesetz und dem Kreislauf der Reinkarnation ausgebrochen, was absolut tabu war.“

Diese Erkenntnis sei auch für die Akzeptanz der Roma heute wichtig, glaubt Clanet: „Von den Schwarzen, die als Sklaven nach Amerika deportiert wurden, würde ja auch niemand verlangen, dass sie zurück nach Afrika gehen.“

Linguistische Untersuchungen bestätigen, sagt Clanet, dass die Roma in einem Schub Indien verlassen haben. Demnach wurden sie um das Jahr 1000 von zum Islam übergetretenen Türken verschleppt, die in den heute zu Afghanistan und dem Nordiran (Chorasan) gehörenden Regionen regierten. Sultan Mahmoud von Ghazni habe laut Clanet bei mehreren Überfällen in Nordindien Tausende Einwohner gefangen genommen, oft ausgezeichnete Handwerker und Militärs.

Von Seldschuken erobert

Vor allem aus Kannauj, einer der reichsten Städte Indiens, seien über 50.000 Männer, Frauen und Kinder nach Kabul deportiert und als Sklaven an Händler aus Chorasan verkauft worden. Sie hätten, so Clanet, zu 80 Prozent den niederen Kasten angehört. Kurz nach Mahmouds Tod übernahmen die Seldschuken, eine andere türkische Dynastie, die Macht in Chorasan und dehnten ihr Einflussgebiet auf das byzantinische Reich aus.

Die Sklaven aus Kannauj nahmen die Seldschuken mit in ihr neues Sultanat. Man setzte sie in Kriegszeiten als Soldaten ein, in Friedenszeiten übten sie ihre angestammten Berufe aus. So konnten sich Anfang des 14. Jahrhunderts einige Familienverbände freikaufen, nachdem sie zum Islam konvertiert waren und daher nicht mehr als Sklaven gehalten werden durften.

Man müsse sich dazu das noch heute viele Romagesellschaften dominierende Sippenbewusstsein vergegenwärtigen, erklärt Clanet. Ein Rom hat sich nie allein freigekauft, sondern immer seine ganze Sippe, die wiederum hierarchisch gegliedert ist. Angehörige niederer Kasten unterstehen dabei der Macht, aber auch dem Schutz höherer Kastenmitglieder. Einige der freigekauften Sippen siedelten sich in den Kolonien des venezianischen Handelsimperiums an, etwa auf den griechischen Inseln Korfu und Kreta. Dort hielt man die dunkelhäutigen Muslime, die rasch zum Christentum übertraten, für Ägypter, was sich heute in den Bezeichnungen „Gypsies“ und „Gitans“ widerspiegelt.

Ein paar von ihnen stiegen durch Dienste in der römischen Armee zu Herzögen und Grafen auf und erhielten eigene Ländereien. Diese Siedlungen, die im Gebiet des heutigen Albanien liegen, wurden „Klein-Ägypten“ genannt. Es handle sich hier, ist Clanet überzeugt, um die einzige Epoche in der Geschichte, in der die Roma einen eigenen Machtbereich hatten. Nach dem Niedergang des Seldschukenreichs übernahmen die türkischsprachigen, muslimischen Osmanen die Herrschaft und bauten ihren Einflussbereich zum osmanischen Reich aus.

500 Jahre lang Leibeigene

Viele noch unfreie Roma gelangten im Rahmen der osmanischen Feldzüge auf den Balkan und blieben dort zum Teil bis zu 500 Jahre lang – beispielsweise in Rumänien, laut Clanet ein einzigartiger Fall in der Geschichte – in Sklaverei bzw. Leibeigenschaft von Adligen, Großgrundbesitzern, aber auch Klöstern.

Die christianisierten Roma aus „Klein-Ägypten“ hingegen, die von den Osmanen als „Apostaten“, also abgefallene Muslime, betrachtet wurden, flüchteten sich in den Schutz des römisch-deutschen Kaisers Sigismund nach Italien, Spanien, Frankreich, Deutschland und vor allem Ungarn.

Anfang des 15. Jahrhunderts tauchen an verschiedenen Orten Europas noble Roma mit Pferden und niederem Gefolge auf, die sich als Fürsten und Herzöge aus Klein-Ägypten bezeichnen und nach eigenen Angaben wegen ihrer früheren Zugehörigkeit zum Islam auf siebenjähriger Pilgerschaft sind. Sie werden durchaus wohlwollend aufgenommen. Man schätzt sie als Soldaten in den Armeen der europäischen Feudalherren, ehe das Verbot feudalistischer Privatkriege aus ihnen ein umherziehendes Heer von Arbeitslosen macht.

Erfinder des „Flamencos“

Die katholischen Könige Spaniens holen, nachdem sie den spanischen Süden von Mauren und Juden „gesäubert“ haben, Roma zur Neubesiedlung ins Reich und setzen sie unter anderem in der Armee von Flandern ein – die sogenannten „Flamencos“ entwickelten hier den „Flamenco“. Einige gelangten auch nach Portugal, wurden im Zuge der Kolonialisierung in Brasilien angesiedelt und so von den „Gregos“, wie die Griechen auf Portugiesisch heißen, zu den ersten „Gringos“ Südamerikas. Und manche von ihnen, wiewohl Nachfahren ehemaliger Sklaven, wurden in Brasilien selber zu Sklavenhändlern.

Die fahrende Lebensweise, die heute nur mehr ein Teil der Sinti beibehalten hat, liegt den Roma jedenfalls nicht im Blut, wie mancherorts behauptet wird. Sie resultiert aus jahrhundertelanger Vertreibung und Diskriminierung, wie sie in Europa spätestens seit dem 16. Jahrhundert in größerem Ausmaß dokumentiert ist. Die Verständigungsprobleme der verschiedenen Romagruppen untereinander freilich sind sehr wohl schon in ihrem Ursprung im indischen Kastensystem angelegt.

Die Autorin ist Korrespondentin in Paris.

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