"Versöhnlichen Erdogan gibt es nicht"

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Der stellvertretende Chefredakteuer der kritischen Tageszeitung "Cumhuriyet", Aydin Engin, über das Referendum in der Türkei, die Strategie Erdogans - und die Spaltung seines Landes. | Das Gespräch führte Adrian Bilgin

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Der stellvertretende Chefredakteuer der kritischen Tageszeitung "Cumhuriyet", Aydin Engin, über das Referendum in der Türkei, die Strategie Erdogans - und die Spaltung seines Landes. | Das Gespräch führte Adrian Bilgin

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Aydin Engin ist der stellvertretende Chefredakteur der freien türkischen Tageszeitung Cumhuriyet. Die Zeitung ist seit Monaten massiven Repressalien durch die Sicherheitsbehörden ausgesetzt. Die FURCHE traf ihn nach dem umstrittenen Referendum.

DIE FURCHE: Wie haben Sie die Wahlnacht erlebt?

Aydin Engin: Es war ein fürchterlicher Abend, ein einziger Alptraum. Bis in die frühen Morgenstunden saßen wir in der Redaktion und haben den Wahlausgang verfolgt. Knapper könnte das Ergebnis nicht sein. Bei Parlamentswahlen wäre das Ergebnis ja zu akzeptieren. Aber für eine so weitreichende Verfassungsänderung reicht eine solch knappe Mehrheit nicht. Jetzt haben wir eine Verfassung und einen Präsidenten nicht für die ganze, sondern nur für die halbe Nation.

DIE FURCHE: Kam es wirklich zu Fälschungen?

Engin: Auf jeden Fall! Viele Stimmzettel waren nicht mit offiziellem Stempel gekennzeichnet. Wer weiß also, wie viele Ja-Stimmen auf dem Weg zu den Zentralen der Wahlkommission dazu kamen? Es kursieren mehrere Videos im Internet, die den Betrug nachweisen.

DIE FURCHE: CHP und HDP wollen die Wahl anfechten. Bringt das etwas?

Engin: Die Wahlkommission besteht fast ausschließlich aus AKP-Leuten. Auch das Verfassungsgericht ist in Erdogans Hand. Es besteht keine wirkliche Gewaltentrennung. Also kann man sagen: Es ist gelaufen.

DIE FURCHE: Die Verfassungsänderung wird also kommen. Wohin bringt sie die Türkei?

Engin: Hier geht es nicht um einen Übergang vom parlamentarischen zum präsidentiellen System. Auch werden unsere Probleme mit der staatlichen Repression jetzt nicht einfach nur größer. Der Sieg Erdogans bei dieser Wahl bedeutet vielmehr einen radikalen Richtungswechsel. Seit 90 Jahren ist die Türkei nach Westen gewandt. Jetzt aber wird ein neues Kapitel aufgeschlagen. Es ist klar, dass Erdogan nach Osten will. Seine außenpolitischen Partner sieht er nicht in Europa und im Westen, sondern in China, Russland -und schlimmer noch in Saudi-Arabien und Katar. Despotismus und politischer Islamismus sind Blutsbrüder.

DIE FURCHE: Muss man also mit einer stärkeren Islamisierung der Türkei rechnen?

Engin: In vielen Teilen der Türkei ist die westliche Denkweise sehr tief verankert. Wir verwandeln uns also nicht sofort in ein Saudi-Arabien oder ein Somalia. Aber Erdogans klares Ziel ist eine schrittweise Islamisierung der Türkei. Er übernimmt viele seiner Positionen aus dem radikalen politischen Islamismus. Ein Journalist hat ihn mal gefragt, ob es nicht ein Problem sei, dass sich so viele Zivilisten bewaffnen. Erdogan hat geantwortet: Wieso? Der Prophet Muhammad und seine Gefährten haben auch Waffen getragen.

DIE FURCHE: Solch eine Weltsicht wird die Beziehungen zur EU weiter belasten. Besteht überhaupt noch ein Interesse Erdogans, die Verhandlungen aufrechtzuerhalten?

Engin: Dass Erdogan in seiner Siegesansprache am Sonntag die Todesstrafe zum Thema machte, beantwortet diese Frage gut. Er will nicht nur Rache an den Putschisten nehmen, oder mit dem Thema Todesstrafe das Volk für sich gewinnen. Vielmehr steckt darin eine Symbolik. Er weiß genau, dass die Todesstrafe das Ende der Beitrittsverhandlungen bedeutet. Und genau das will er.

DIE FURCHE: Manche dachten, Erdogan würde nach einem Sieg seinen Ton mäßigen.

Engin: Da ist schon etwas dran. Bei einem Nein hätten wir wohl einen wilden, einen gnadenlosen Erdogan erlebt. Die Balkonansprache vom Sonntag zeigt aber auch: Den versöhnlichen Erdogan gibt es nicht.

DIE FURCHE: Welche Entwicklungen stehen der Türkei nun unmittelbar bevor?

Engin: Ich glaube, dass es bald zu Neuwahlen kommen wird. Die nächsten Wahlen sind eigentlich im November 2019, und erst mit den Wahlen würde der Großteil der Verfassungsänderungen in Kraft treten. Erst als Präsident unter der neuen Verfassung wird er durch Dekrete das Land im Alleingang regieren können. Außerdem träumt er von einem ewig währenden Ausnahmezustand, den er dann jederzeit verhängen kann.

DIE FURCHE: In der Wahlnacht protestierten Tausende gegen das Ergebnis. Könnte daraus eine Bewegung entstehen, die Erdogans Machtzuwachs noch verhindert?

Engin: 49 Prozent der Wähler akzeptieren dieses Ergebnis nicht und sehen es als illegitim. Überhaupt gleicht es einem Wunder, dass unter den unfairen Bedingungen im Wahlkampf so viele Türken mit Nein gestimmt haben. Ich rechne damit, dass sich Widerstand formiert und die Proteste größer werden. Der Sieg Erdogans könnte sich also als Pyrrhussieg erweisen.

DIE FURCHE: Wie gehen Sie mit dieser Unsicherheit um, haben Sie keine Angst?

Engin: Ich bin 76 Jahre alt und werde müde. Aber jemand muss die Arbeit machen. Ich weiß genau, dass jederzeit die Polizei an meine Tür klopfen könnte. Ich saß schon mehrmals im Gefängnis, habe mehrere Militärputsche miterlebt. Junge Kollegen fragen mich manchmal: Abi Aydın, wie geht es morgen weiter? Ich sage ihnen dann: Heute machen wir erstmal eine gute Zeitung.

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