Verspätete Reue einer Militärdiktatur

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Bald drei Jahrzehnte dauerte die Suche einer uruguayischen Mutter nach dem Sohn, der ihr als Baby von den Schergen der Militärdiktatur entrissen wurde. In diesen Wochen fand sie ein glückliches Ende.

Diese Szene kommt eigentlich nur in Märchen vor und nicht im wirklichen Leben: Ein junger Mann wartet mit einem großen Blumenstrauß auf eine unbekannte ältere Frau, die auf ihn zuläuft, ihn umarmt und herzt und abküsst. Die Frau, Sara Méndez, war eigens aus Montevideo, der Hauptstadt Uruguays, zu diesem Treffen angereist. Sie hatte ihren Sohn Simón wiedergefunden, der ihr im Alter von drei Wochen in einem argentinischen Folterzentrum weggenommen worden war.

Mitte März ist Saras fast endlose Suche nach ihrem Sohn, die jahrelang ihre Heimat Uruguay und viele Menschen auf der ganzen Welt bewegt hat, zu einem glücklichen Ende gelangt. "Jene, die während dieser langen Jahre die Hoffnungen und die Enttäuschungen der Suche mit mir geteilt haben, haben das wohlverdiente Recht, mit mir zu sagen, WIR haben Simón gefunden, und mit mir die Freude zu teilen", schrieb Sara wenige Tage nach dem Treffen von Buenos Aires an die Freunde und Unterstützerinnen, die sie auf dieser Suche begleitet hatten.

In den siebziger Jahren wurde fast ganz Lateinamerika von einem Netz von Militärdiktaturen überrollt, die sich unter anderem die Ausrottung jeglicher politischer oder weltanschaulicher Opposition auf ihre Fahnen geschrieben hatten. General Pinochet setzte im September 1973 in Chile den blutigen Auftakt zu dieser Epoche des Schreckens (nur Brasilien war schon 1964 "vorausgeeilt"). Bald darauf folgten auch Argentinien und Uruguay. Die Sicherheitskräfte dieser Länder arbeiteten, mit tatkräftiger US-amerikanischer Unterstützung, im so genannten Plan Condor engstens bei der "Endlösung" für Kommunisten, Sozialisten, Anarchisten und alle vermeintlichen Sympathisanten zusammen. So wurden viele in Uruguay festgenommenen politischen Aktivisten nach Argentinien überstellt, um dort der effizienteren Foltertechnik der argentinischen Militärs ausgeliefert zu werden. Auf 30.000 "Verschwundene" berechnete eine Untersuchungskommission unter Leitung des Schriftstellers Ernesto Sábato die Zahl der Opfer der argentinischen Endlösung.

Sara Méndez war Aktivistin einer in Uruguay sehr aktiven Linkspartei, dem Partido por la Victoria del Pueblo (PVP), der "Partei für den Sieg des Volkes". Aus der erhofften Revolution wurde nichts; die meisten Mitstreiter dieser Partei wurden bereits im ersten Jahr der Militärdiktatur verhaftet und "verschwanden", einigen gelang die Flucht ins Exil.

"Nicht gegen Kinder"

Am 13. Juli 1976 stürmte ein Militärkommando unter Leitung von Major José Gavazzo - der heute als pensionierter Oberst in Montevideo lebt - das Haus in der Azurduy-Straße in Buenos Aires, in dem Sara Méndez mit ihrem Gefährten Mauricio Gatti und dem gerade drei Wochen alten Baby Simón wohnte. Mauricio war zu diesem Zeitpunkt nicht zu Hause und konnte flüchten; die Anwesenden Sara, Simón und eine Freundin von Sara wurden festgenommen und in das berüchtigte Folterzentrum "Automotores Orletti" - das vor allem für politische Gefangene aus Uruguay bestimmt war - überstellt. Nur wenige Menschen haben diese "Überstellung" überlebt. Sara Méndez hatte das Glück, dass sie zwei Wochen später wieder nach Uruguay geschickt, dort "offiziell" verhaftet und zu einer mehrjährigen Gefängnisstrafe verurteilt wurde.

"Seien Sie nicht besorgt, dieser Krieg ist nicht gegen Kinder gerichtet", hatte Major Gavazzo Frau Méndez mitgeteilt, nachdem sie ihr den kleinen Simón entführt hatten. Das war kein Einzelfall, sondern sogar die Regel in Argentinien, dass jungen Müttern vor ihrem Verschwindenlassen die Kinder weggenommen und diese dann kinderlosen Militärs oder Polizisten zur Adoption übergeben wurden: Der Krieg war ja "nicht gegen Kinder gerichtet". Deswegen trafen die solcherart geraubten Kinder, die vor allem auf Grund von Recherchen von Menschenrechtsorganisationen in den letzten Jahren ihre wahre Identität erfuhren, bei ihrer Rückkehr meist nur mehr ihre Großeltern an.

Nach ihrer Freilassung Anfang der achtziger Jahre begann Sara, nach ihrem verschwundenen Kind zu suchen. Lange Zeit konzentrierte sie die Suche auf einen Jungen, der von ihr nichts wissen wollte, der zufrieden mit seiner Familie lebte und lange auch jede Blutanalyse verweigerte. Der österreichische Autor Erich Hackl schrieb ein Buch über die berührende Suche der uruguayischen Mutter nach ihrem Sohn ("Sara und Simón", Diogenes 1995), die damals noch ganz im Zeichen der Hoffnung stand: Sara war überzeugt, ihren Simón gefunden zu haben - erst vor knapp zwei Jahren erwies sich durch eine DNA-Analyse, dass ihre Fährte nicht die richtige war.

Als sich Anfang März abzeichnete, dass in Buenos Aires offenbar die richtige Spur von ihrem Simón gefunden worden war, teilte sie dem Autor und Freund mit: "Vielleicht können wir dein Buch zu Ende schreiben." Hackl hatte die Geschichte von Sara und Simón nämlich im Untertitel als "endlose Geschichte" bezeichnet, als das Drama einer Mutter, die für ewig dazu verurteilt schien, ihr geraubtes Baby zu suchen. Als im März 2000 Jorge Battle in Uruguay das Präsidentenamt antrat, versprach er im Gegensatz zu seinen Vorgängern, sich um die Aufklärung des Schicksals der Verschwundenen und vor allem der von den Militärs geraubten Kinder zu sorgen. Ein Thema, das bis damals in Uruguay, genau so wie in Argentinien, tabu war. Die Folterer oder ihre Auftraggeber in den Sicherheitskräften konnten im Schutze eines Amnestiegesetzes in Ruhe weiter ihren Dienst versehen oder ihre Pension genießen. In diesem Sinne waren Battles Ankündigungen eine Sensation - der allerdings kaum Taten folgten. Die Suche nach Simón erfolgte ohne jegliche staatliche Unterstützung, und die eigens zur Aufklärung solcher Fälle ins Leben gerufene "Friedenskommission" zeigte sich wenig kooperationsbereit.

Festtag für Uruguay?

Auch wenn die Regierung sich nun die Auffindung von Simón auf ihre Fahnen heften will und Battle von einem Festtag für alle Uruguayer spricht: Sara selbst, die es ja am besten wissen wird, gibt an, seitens der Kommission bei ihrer Suche überhaupt keine Hilfe erfahren zu haben. Im Gegenteil, es wurde ihr sogar angedeutet, dass ihr Baby gleich nach dem Raub in einer Klinik in Buenos Aires gestorben sei, und öffentlich wurde Sara Méndez kritisiert, mit ihrer Suche nach dem Sohn eine politische Kampagne gegen die Regierung zu betreiben.

Auf Grund der Erfolglosigkeit ihrer Bemühungen in Uruguay hatte Sara nämlich im vergangenen Jahr eine Europa-Reise unternommen und hier mit EU-Parlamentariern, Ministern und politischen Entscheidungsträgern gesprochen und sie gebeten, bei der uruguayischen Regierung zu intervenieren. Denn nur ein Einblick in die Militärarchive schien Aussicht auf Erfolg zu versprechen. Die Hilfe kam jedoch von anderer Seite. Der Journalist Roger Rodríguez und der Senator Rafael Michelini, Vorsitzender einer kleinen sozialdemokratischen Partei Uruguays, hatten sich auf eigene Faust auf die Suche nach Simón gemacht. Wobei Michelini auch einen persönlichen Beweggrund für sein Engagement hatte: Sein Vater Zelmar Michelini, ebenfalls Abgeordneter, war einen Monat vor Sara in das argentinische Folterzentrum Automotores Orletti überstellt worden - und ist seither verschwunden.

Ein Kind, vier Eltern

Den beiden gelang es in mühevoller Recherche, jenen Soldaten aufzufinden, der damals den kleinen Simón adoptiert und als eigenes Kind legalisiert hatte. Simón hatte nie von seiner wirklichen Herkunft erfahren. Bis zum 3. März dieses Jahres, als ihm - nach einem Besuch von Senator Michelini - der Adoptivvater seine wahre Identität eröffnete und ihm auch mitteilte, seine Mutter sei eine ehemalige politische Gefangene, die schon seit über zwanzig Jahren nach ihm suche. Wenige Tage später ging Michelini mit dem Jungen zu einem Bluttest, der die Vermutung zur Gewissheit werden ließ: Simón war gefunden! Er rief sofort, mit dem Handy des Senators, seine Mutter in Montevideo an, symbolischerweise am 8. März, am Internationalen Frauentag, der zum glücklichsten Tag im Leben der Sara Méndez werden sollte.

Wenige Tage später das Wiedersehen in Buenos Aires. Eine fast unmögliche Beziehungsgeschichte scheint zu gelingen. Simón akzeptiert völlig jene wildfremde Frau, die nun als seine Mutter auftaucht und steht weiterhin zu seinen Eltern, bei denen er, nach eigenen Angaben, eine glückliche Kindheit verbracht hat. Sara Méndez: "Es ist wirklich eine fantastische Geschichte. Unsere Beziehung begann mit viel Aufrichtigkeit und Vertrauen. Natürlich muss man das Vertrauen erst weben und pflegen, doch wir haben zumindest auf der wichtigen Grundlage einer gegenseitigen Öffnung begonnen."

Simón bezieht nun mit seiner Freundin eine neue Wohnung, und Sara freut sich sehr, dass er für sie und ihren Mann ein eigenes Gästezimmer einrichtet. Und noch mehr freut sie sich darüber, dass Simón in absehbarer Zukunft nach Montevideo übersiedeln möchte.

Der Autor ist Redakteur der entwicklungspolitischen Zeitschrift "Südwind".

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