6573147-1950_30_03.jpg
Digital In Arbeit

Verwaltungsdiktatur in der Demokratie

Werbung
Werbung
Werbung

Um die Krankenkassen ballt sich die Kritik häufiger, als es bei Sozialinstituten, die der Volkswohlfahrt gewidmet sind, vorkommen sollte. Solange unsere Sozialversicherungsinstitute, besonders die Gebietskrankenkasse, eine Art Monopolstellung genießen und stark unter parteipolitischem Einfluß stehen, wird es schwer sein, ein absolut klares Bild der wahren Verhältnisse zu gewinnen. Die Krankenkassen klagen über ein Defizit — in einzelnen Fällen handelt es sidi um sehr hohe Beträge —, für das sie mannigfache Gründe anführen. Die Arzneimittelkosten seien zu hoch, deren Verminderung sei unerläßlich. Gegen solche Er-sparungsmaßnahmen wehren sich nicht nur die Apotheker als die wirtschaftlich Betroffenen, sondern vor allem die Kassenmitglieder selbst und auch die Ärzte. Die Kassennrtglieder sehen sich in der Beschränkung der ihnen zugebilligten Heilmittel benachteiligt und als eine Gattung von Kranken hingestellt, die sich mit minderen Heilmitteln zu begnügen haben. Kein Wunder, daß sie dann die von den Kassenärzten verschriebenen „billigen“ Arzneien mit Mißtrauen entgegennehmen. Jede Maßnahme, die bei der Verabfolgung von Arzneien zwischen „Privaten“ und „Kassenpatienten“ einen Unterschied macht, ist begreiflicherweise anstoßerregend. Mit Recht sehen die Vertragsärzte1 der Krankenkassen in dem Einengen ihres ärztlichen Ermessens bei der Verschreibung der Arzneimittel eine unzulässige Bevormundung von seiten der Kassen.

Es ist richtig, daß die Krankenkassen verschiedene Sparmaßnahmen zur Beseitigung des Betriebsabganges auch auf anderen Gebieten ergriffen haben. Anläßlich der vorjährigen Hauptversammlung nahm die Wiener Gebietskrankenkasse Satzungsänderungen vor, die auf Kürzungen der Kassenleistungen bei Stillprämien, beim Spitalkostenersatz und beim Sterbegeld hinauslaufen. Bei den Spitalsverpflegsgebühren trat die groteske Tatsache ein, daß sich die Kassen weigern, die von der.Landesregierung festgesetzten Verpflegskosten in den Spitälern für ihre Mitglieder zu bezahl e n, so daß plötzlich Gemeinden für Ausfälle in den Verpflegskosten ihrer Spitäler aufkommen sollen. Wenn beispielsweise die errechneten Ver-pflegsgebühren im Krankenhaus einer niederösterreichischen Stadt 23 Schilling für den Tag betragen, dann will die zuständige Gebietskrankenkasse für ihre in diesem Spital untergebrachten Mitglieder nur einen kleineren Betrag bezahlen und überläßt die Deckung des Defizits der spitalserhaltenden Gemeinde. Da mindestens 80 Prozent aller Spitalspfleglinge krankenversichert sind, ergibt sich für das Krankenhaus ein bedeutsamer Abgang, der von den Steuerzahlern der Gemeinde getragen werden soll, obwohl nur ein kleiner Teil der Patienten Gemeindemitglieder sind. Will oder kann die Gemeinde das auflaufende Defizit nicht decken, dann muß sie in Nachahmung der Krankenkassen die Leistungen hinsichtlich Verpflegung und arzneilicher Betreuung der Kassenpatienten vermindern, das heißt es muß wiederum eine unsoziale Klassifikation der Patienten eintreten.

Die Kundmachung, welche die „Wiener Zeitung“ vom 2. Juli veröffentlichte, stellt nun mit Genehmigung des Bundesministeriums für Soziale Verwaltung neue „Richtlinien des Hauptverbandes der Sozialversicherungsträger über die ökonomische Verschreibweise von Arznei- und Heilmitteln sowie Heilbehelfen“ auf. Dieser Hauptverband ist die Dachorganisation der einzelnen Sozialversicherungsinstitute, die unter dem geläufigsten Begriff „Krankenkassen“ für die große Öffentlichkeit in Erscheinung treten.

Die Richtlinien besagen im wesentlichen, daß „die Verordnung von Arznei-und Heilmitteln (Heilbehelfen) nach Art und Umfang wirtsdiaftlich und nur im Ausmaß des Notwendigen zu erfolgen hat“. Dem Arzte wird zur Pflicht gemacht, bei allen Verschreibungen die Grundsätze wirtschaftlicher Verschreibweise zu beachten und darauf zu sehen, daß mit verhältnismäßig geringem

Kostenaufwand ein möglichst großer Heileffekt erzielt wird.

Diesen aus 26 Punkten bestehenden Richtlinien wurde eine Liste jener Arzneispezialitäten angeschlossen, die von den Vertragsärzten der Krankenkassen überhaupt nicht verschrieben werden dürfen. Zu diesen verbotenen neuen Artikeln gehören zum Beispiel Antabus, Calcibronat, Brausetabletten, Chinawein usw. Eine zweite Liste bezeichnet jene Arzneispezialitäten, deren Verschreibung an die vorherige Bewilligung der Krankenkasse gebunden ist. Diese Liste umfaßt 600 Artikel. Da rund 3000 Spezial-präparate gezählt werden, ist also ein Fünftel davon u n t e r die Sperre gelegt, die nur durch besondere Bewilligung behoben werden kann. Zu diesen

600 genehmigungspflichtigen Spezialitäten gehören wichtige Heilmittel, wie Sympathol bei Kreislaufstörungen, Pen-nicillin bei Lungenentzündung, sämtliche Tonica, dann Privinlösung, Sirolin, Sorisin als Hustenmittel, Rheumalgin, Polyneurin und Retalonsalbe, die als Hormonsalbe nicht ersetzt werden kann. Aber auch viele andere Präparate, deren Verordnung und Abgabe an die vor-herige Bewilligung der Krankenkasse beziehungsweise des Chefarztes nunmehr gebunden sind, können absolut nicht ersetzt werden und sind in der modernen Medizin unentbehrlich. So sind für den größten Teil der Bevölkerung die Ansprüche auf die Fortschritte der modernen medi-zinischenTherapiewegdekre-tiert worden. Wie mit einem demokratischen Staate eine solche Allmacht von Verwaltungsinstituten vereinbar ist, kann schwer ergründet werden. Nicht das ärztliche Ermessen, sondern wirtschaftliche Erwägungen der Kassen werden in der Heilpflege an de erste Stelle gesetzt.

In den Richtlinien wird von einer notwendigen Vereinfachung der medikamentösen Behandlung und von Abstellung der Vielschreiberei gesprochen. Vortrefflich, wenn es so geschähe. Aber diese Vereinfachung besteht darin, daß dem Kassenpatienten neue Lasten aufgelegt werden. Er hat die Fahrtkosten zu tragen, die ihm bei der Einholung der vorgeschriebenen Bewilligung erwachsen, er muß seine eigene Arbeitszeit oder die eines Angehörigen für den Gang um die Bewilligung und das notwendige Warten opfern. Die „Vereinfachung“ aber besteht darin, daß die erforderliche Bewilligung im Aufdruck einer Stampiglie besteht, wobei der Chefarzt den Patienten in der Regel gar nicht zu sehen bekommt. Es hätte noch einen Sinn, wenn die Verschreibung des behandelnden Arztes auf Grund einer Untersuchung durch den Chefarzt überprüft würde, aber der Stempelauf-druck eines Kassenbea m t en stellt wahrlich keine ärztliche Überprüfung dar, und die angebliche Vereinfachung bedeutet nur außer belästigenden und belastenden Formalitäten für den Patienten eine Vermehrung und Verteuerung des bürokratischen 'Apparats.

Immer überzeugender setzt sich in der Öffentlichkeit der Eindruck durch, daß die Krankenkassenverhältnisse unhaltbar wären. Nach einer vernünftigen Lösung des Problems muß gesucht werden. Es ist gewiß unerfreulich, wenn das Mißvergnügen mit Führung und Leistung von Sozialversicherungsinstituten schon einen solchen Grad angenommen hat, daß in der Bevölkerung das Verlangen nach Aufhebung der Monopolstellung dieser Sozialversicherungsinstitute und nach Errichtung privater Krankenkassen laut wird, also naoh einer Lösung, die in anderen Ländern besteht.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung