"Virus der Lethargie"

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Die berühmten "100 Tage" ist nun die Große Koalition in Deutschland an der Macht. Anlass zu einem sorgenvollen Blick auf den Zustand der Demokratie.

Der Begriff "Politikverdrossenheit" ist zu einem modischen Schlagwort geworden, das keinen mehr verschreckt. Eigentlich müsste korrekter von der "Politikerverdrossenheit" die Rede sein. Doch dies hören die Damen und Herren nicht mehr so gern, die unlängst "mehr Ehrfurcht" von Unternehmern und Managern forderten. Kritik am Zustand unserer Demokratie ist noch gefährlicher, denn derjenige, der sie vorbringt, könnte als Anti-Demokrat ins moralische Abseits gestellt werden. Diese Erfahrung musste vor 45 Jahren auch der konservative Publizist Winfried Martini machen, der in seinem Werk "Freiheit auf Abruf" (1960) schrieb: "Seitdem vor wenigen Jahren mein Buch ,Das Ende aller Sicherheit' herausgekommen ist, gilt es als ausgemacht, daß ich kein Demokrat sei."

In seinem 1954 erschienenen Buch über das Ende aller Sicherheit hatte Martini die These aufgestellt, dass die moderne Demokratie ihren Höhepunkt überschritten habe. Die demokratische Organisation des Staates sei den praktischen Anforderungen der Gegenwart und Zukunft nicht mehr gewachsen. Martini definierte die Freiheit als obersten Wert. Die Demokratie hingegen stelle keinen Wert an sich dar, sondern sei "nur ein organisatorisches Mittel, um bestimmte Zwecke zu erreichen".

Der überfragte Wähler

Ein Kapitel seiner Streitschrift widmete der Verfasser dem "überfragten Wähler". Und ein Unterkapitel beschäftigt sich mit dem abstinenten Wähler. Wahlabstinenz, so Martini, sei fast immer ein Zeichen von Aufrichtigkeit: "Sie ist ein stummer Protest gegen die Zumutung, fortgesetzt ein Urteil über Dinge und Personen abzugeben, denen man doch so fern wie möglich steht." Die Abstinenten seien nicht urteilsfähiger als die Wählenden, aber sie maßten sich auch kein Urteil an, sie posierten nicht als Politiker.

Viele der damals formulierten Gedanken waren der Zeit geschuldet. Martini hatte die starke Befürchtung, dass der "verweichlichte" und nur noch auf das Materielle eingeschworene Westen der ideologischen Kraft des Ostens unterliegen könne. Andere Ideen Martinis klingen hingegen sehr vertraut. So kritisierte er den Hang einiger Politiker und Wirtschaftsvertreter, ausschließlich in ökonomischen Kategorien zu denken. Die zurückliegende Bundestagswahl hat eindrucksvoll gezeigt, wie man mit einer solchen Strategie Schiffbruch erleiden kann, weshalb der Kanzlerin mittlerweile aus der csu und der Nordrhein-Westfalen-cdu geraten wurde, in den sozialen Schmuse-Sound einzuschlagen, der von den Fischer-Chören des Jürgen Rüttgers (Ministerpräsident von nrw; Anm.) gesummt wird. Martini machte seine Kritik an der ökonomischen Ikone der cdu, Ludwig Erhard, fest, dem der "innere Zugang zum Wesen des Politischen" fehle.

"An einem Strang ziehen"

Die in "Freiheit auf Abruf" geäußerten Thesen mündeten in ein Plädoyer für einen konstruktiven Pessimismus. Martini sah die Zukunft oder die Lebenserwartung der Bundesrepublik sehr pessimistisch, wollte aber keine Panikstimmung erzeugen. Und während sich Angela Merkel in ihrer Regierungserklärung ein verdruckstes, Willy Brandt ("Mehr Demokratie wagen") abgelauschtes "Mehr Freiheit wagen" abrang, erkannte er die "Rettung" in einem überzeugenden Bekenntnis zur Freiheit, um eine kampflose Kapitulation des Westens oder die Möglichkeit eines "bundesrepublikanischen Koreas" zu vermeiden.

Es gehört zur Geschichte der Bundesrepublik dazu, dass man sie immer wieder am Abgrund sah. Ein Beispiel für neuere Krisenliteratur ist das Buch des zdf-Journalisten Wolfgang Herles, welches den Titel "Dann wählt mal schön. Wie wir unsere Demokratie ruinieren" trägt. Das Erfreuliche an der Lektüre ist, dass der meinungsfreudige Journalist Herles einige heilige Kühe schlachtet. Am Ende spricht er sich mehr oder weniger unumwunden dafür aus, nicht mehr zur Wahl zu gehen, weil keine echten Alternativen bestehen. Das Buch erschien wohlgemerkt vor der Bundestagswahl; doch nach der Besiegelung des Dinosaurier-Bündnisses kann sich Herles bestätigt fühlen. Alles bleibt in Deutschland letztlich beim Alten, nur unter Ausschaltung der in sich zerstrittenen Opposition aus Liberalen, Grünen und Linkspartei, die am liebsten alle auch gern mitregieren würden. Dann wählt mal schön? Nein danke.

Wenn Herles auch manchmal allzu plakativ formuliert und man am Ende nicht weiß, worauf er eigentlich hinauswill, so lohnt sich die Beschäftigung mit seinem neuesten Titel allemal. Man darf seine Streitschrift als polemischen Angriff auf unseren "Konsens-und Geschlossenheitskult" lesen, der sich etwa in der häufig zu hörenden Mahnung zeigt, jetzt müssten doch endlich alle an einem Strang ziehen. Wenn Arbeitgeber und Arbeitnehmer, Sozialdemokraten und Christdemokraten, Christen und Muslime, Ausländer und Inländer, Homosexuelle und Heterosexuelle, Weintrinker und Biertrinker nicht dauernd an einem Strang ziehen, dann ist die deutsche Seele nicht im Gleichgewicht. In den Parteien wird ja schon seit langem nicht mehr gestritten; und wenn parteiintern zwei Kandidaten sich um ein Amt bewerben, dann ist das gleich eine Kampfkandidatur. Deshalb ist Herles nur zuzustimmen: "Keine Reform des Landes ist möglich ohne eine Reform der Parteien."

Mittagstisch kahlgefressen

Martini hielt den Wert der Freiheit für entscheidend. Doch in schwierigen Zeiten - und in denen leben wir zweifelsohne - sinkt der Wert der Freiheit. "Ordnung und Gerechtigkeit sind in Deutschland allemal verführerische Werte, viel verführerischer als Verantwortung und Freiheit", schreibt Herles. Schlimmer noch, der "Virus der Lethargie" breitet sich immer mehr aus. Keine neue 68er-Revolte ist in Sicht, da die Vertreter dieser Generation ihre fetten Ruhebezüge genießen und langsam aus der ersten Reihe abtreten. Den Jüngeren blieb nicht mehr so viel Luft zum Atmen. Sie stellen nach den Worten des Historikers Paul Nolte die verunsicherte Generation, die kein Zutrauen mehr in das eigene Können hat, weil die egoistischen Kulturrevolutionäre den Mittagstisch kahlgefressen haben, bevor die Jüngeren überhaupt zu Tisch gebeten wurden. Die ständige Sorge um den Arbeitsplatz und die einseitige Fixierung auf die materiellen Werte haben ihnen den Mut zur eigenen Meinung und zu eigenen Ideen genommen.

Gier-ist-geil-Mentalität

Angesichts des Wegfalls der kommunistischen Bedrohung von außen könnten eigentlich erhebliche Anstrengungen unternommen werden, den von Herles als miserabel bezeichneten inneren Zustand der Republik zu beheben. Herles' Bannstrahl trifft nicht nur die mittelmäßigen Politiker und die mittelmäßigen Wähler, sondern auch die Kaste der Manager, die nach der Gier-ist-geil-Mentalität verfährt. Unter Berufung auf John Kenneth Galbraith spricht Herles vom "System der Konzerne". Nichts anderes sei die Marktwirtschaft in Deutschland. In Deutschland möchte jeder im öffentlichen Dienst oder in einem Konzern arbeiten; der Mut zum Unternehmerischen ist weniger stark ausgeprägt. Und während die Intellektuellen ihre geistigen Schrebergärten pflegen - wer nimmt es schon noch ernst, wenn Günter Grass die Gruppe 47 wiederbeleben will? -, stecken sich die Politiker das Geld in die Taschen. Den Wählern predigen sie Einschnitte bei der Rente und ermahnen sie zur Eigenvorsorge. Politiker zahlen nichts für ihre Altersversorgung. Bei rund 11.000 Euro Pension pro Monat kann Hans Eichel nur müde darüber lächeln, wie sich sein Nachfolger Peer Steinbrück nun bemüht, den Scherbenhaufen wieder zusammenzukehren.

Kanzlerwahlverein CDU

Die Volksvertreter pflegen die Vollkaskomentalität: "Beamte, die ins Parlament einziehen, werden beurlaubt. Sie riskieren nichts, werden während ihrer Tätigkeit als Parlamentarier sogar befördert. Auch Angestellte genießen Kündigungsschutz, während sie ihr Mandat ausüben." Und was ist mit denen, die diesen "Saustall" ausmisten wollten, ja die eine andere Republik anstrebten? "Die Union degeneriert immer in dem Moment zum Kanzlerwahlverein, in dem sie die Macht zu riechen beginnt", so Herles, und man muss Merkels Adjutanten Volker Kauder nur zuschauen, wie er seine Kanzlerin frenetisch beklatscht und wie er während seiner Zeit als cdu-Generalsekretär auf jeden zarten Versuch einer intellektuellen Führung verzichtete, um einen Beleg für diese These zu finden. Dann werden die Reformen halt nicht gemacht, sagt sich die Union, der Wähler hat es ja so gewollt, und wir blähen lieber die Ministerien mit treuen Gefolgsleuten auf.

Neue Nüchternheit?

Dem Land fehlt eine gehörige Portion an Liberalismus, Meinungsfreude, Debatten innerhalb der Parteien, und es mangelt vor allem an knorrigen Gestalten, die sich nicht nur als Kofferträger und Abnicker verstehen. Herles analysiert den Abgang von Friedrich Merz, der sicher auch erhebliche Defizite hat, der aber wenigstens für einen dezidierten Standpunkt eintrat, völlig richtig: "Merz' vorläufiger Abschied aus der Politik musste sie mehr treffen, als wenn er mit zusammengekniffenen Pobacken auf seinem Posten geblieben wäre. Denn Merz zeigte auf der Kaiserin neue Kleider. Unter ihrem Reformkostüm im Businesslook trägt sie die Angoraunterwäsche des alten Kohl'schen Kanzlerwahlvereins."

Alles in allem betrübliche Aussichten. Doch während Martini noch ein wenig gegen Windmühlen kämpfte, denn die Politiker seiner Zeit waren doch in der Regel hochkarätiger als die heutigen Vertreter, ist im Jahr 2005 der Ernstfall eingetreten. Schon wenige Wochen nach der Wahl ist bei vielen Ernüchterung eingetreten. Die wichtigen Fragen werden vertagt. Die große Koalition betreibt Schadensbegrenzung. Ist derjenige, der dann resignierend den Urnengang verweigert, ein Anti-Demokrat? Oder handeln nicht gerade die Musterdemokraten fahrlässig, die einfach immer weiterwurschteln wie bisher und dies dann auch noch als neue Nüchternheit ausgeben?

Der Autor lebt als freier Publizist in Deutschland.

Dann wählt mal schön

Wie wir unsere Demokratie ruinieren

Von Wolfgang Herles

Piper Verlag, München 2005, 240 Seiten, e 17,90

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