Visionen und reale Aufgaben

Osterweiterung der EU: Das klingt so, als ob es sich um einen fernen Osten handeln würde. Aber dieser Osten ist sehr nah. Er heißt Krakau und Budapest, Preßburg und Bukarest, Laibach und Prag. Dieser Osten ist außerdem gar keiner, es sind Gegenden in der Mitte Europas, östlich sind sie nur von Österreich aus gesehen.

Jetzt stehen alle diese Länder vor den Toren der EU und möchten eingelassen werden. Sie möchten teilhaben am Wohlstand, der in Westeuropa herrscht.

In diesem Westeuropa herrscht aber keineswegs Freude über die armen Nachbarn, die da anklopfen, sondern Sorge und Furcht. Diese Sorge, die vor allem in den östlichen Bundesländern Österreichs herrscht, und die von deren Landeshauptleuten artikuliert wird, hat gute Gründe.

Was soll geschehen, wenn die Grenzen und der Arbeitsmarkt geöffnet werden und Menschen hereinströmen, die hier das Zehnfache von dem verdienen möchten, was sie zuhause bekommen? Die Förderungen der EU reichen schon heute kaum mehr für die ärmeren südlichen Staaten der Gemeinschaft, für die noch um vieles bedürftigeren Länder in Zentraleuropa werden sie sicher nicht im selben Maß fließen können.

Trotz beachtlicher Fortschritte in manchen Bereichen sind die Volkswirtschaften dieser Länder noch weit hinter westlichem Standard zurück, sie könnten im rauhen Wind der Konkurrenz nicht bestehen. Die schwere Krise des tschechischen „Wirtschaftswunders” zeigt, wie langwierig und schwer der Weg wirklich ist.

IV ”” icht nur große Teile der Bern völkerungen dieser Länder, -L 1 auch manche Politiker machen sich Illusionen über 3ie wahren Verhältnisse und auch über die Chancen, die sie haben. Es kann und wird keinen Beitritt zu herabgesetzten Preisen geben.

Das gilt auch für die politischen Verhältnisse. Zu Europa zu gehören, bedeutet auch, europäische Standards in der Politik zu haben: Be-spekt und Schutz für nationale und ethnische Minderheiten, demokratisches Verhalten nicht nur in der Wahlzelle. Der Kommunismus hat in dieser Beziehung tiefe Verheerungen in allen von ihm beherrschten Gesellschaften verursacht. So hat die große europäische „Wertestudie” ergeben, daß in vielen osteuropäischen Ländern der Antisemitismus grassiert und die Fremdenfeindlichkeit viel größer ist als im Westen.

Dennoch muß die Osterweiterung sein. Nur die EU kann Zentraleuropa eine Perspektive bieten. Sonst fallen diese Länder ins Chaos - mit allen verheerenden Folgen für Westeuropa.

Der EU wird manchmal vorgeworfen, sie habe keine Vision mehr. Die muß sie gar nicht haben. Sie hat sehr reale Aufgaben, und die sind groß genug, daß sie alle Kraft brauchen werden, deren dieses Europa noch fähig ist.