6752784-1967_34_11.jpg
Digital In Arbeit

Völkerrecht und Politik

Werbung
Werbung
Werbung

Die besondere Beachtung politischer Gegebenheiten sowie deren normative Kraft sind die Eigenschaften des Völkerrechtes, welche die Eigenheit und Unvergleichlichkeit dieses Rechtsgebäudes vielleicht am deutlichsten machen. Im Völkerrecht sind die Ubergänge von Politik und Recht verschwommener als im innerstaatlichen Recht, und die Feststellung, was jetzt konkret Recht ist, wird im Bereich des Völkerrechtes immer schwieriger zu treffen sein als im Bereich des innerstaatlichen Rechtes, dessen Quellen formaler und starrer sind. Das hat seine Ursache vor allem darin, daß im Völkerrecht Normsetzer und Normadressaten, die Völkerrechtssubjekte, nicht nur theoretisch, sondern auch de facto identisch sind.

Das Rechtsinstitut der dauernden Neutralität, seine Weiterentwicklung und seine Analysierung, hat für Österreich eine besondere völkerrechtliche und politische Bedeutung: Als Ergebnis einer politischen Handlung, eines Gesetzesbeschlusses des österreichischen Nationalrates, wirkt die dauernde Neutralität auf die österreichische Politik zurück; als eine Maxime, der sich die anderen Gesichtspunkte unserer Außenpolitik unterzuordnen haben. Stephan Verosta, Ordinarius für Völkerrecht an der Universität Wien, gibt dem Gutachten über diese Maxime nicht nur eine juristische, sondern auch eine historische Note. Die österreichische Neutralität ist nicht am 26. Oktober 1955 plötzlich vom Himmel gefallen; zu ihrem Verständnis muß die Entwicklung, die zu diesem 26. Oktober 1955 geführt hat, voll und ganz berücksichtigt werden.

Die Quasineutralität der Republik Österreich nach 1919, basierend auf Artikel 88 des Vertrages von Samt-Germain, ist die entscheidende Voretappe. Der Artikel 88 enthielt wesentlich mehr als das Verbot des Anschlusses an Deutschland; er verpflichtete einerseits Österreich, seine Unabhängigkeit weder aufzugeben noch zu gefährden, anderseits die Vertragspartner der Vororteverträge, die Unabhängigkeit Österreichs zu achten und sich jeder Gefährdung derselben zu enthalten. Dadurch wurde ein internationaler Status begründet, der dem der Schweiz ähnlich war. Die Quasineutralität Österreichs wurde 1922 in den Genfer Protokollen noch bekräftigt.

Diese völkerrechtliche Einordnung der historischen Fakten zeigt, daß die immerwährende Neutralität Österreichs, die auf dem Bundesverfassungsgesetz über die Neutralität Österreichs (BGBl. 211/1955) beruht, mehr ist als das fast zufällige Produkt einer bestimmten weltpolitischen Konstellation, mehr als der Kaufpreis für die Wiedergewinnimg der vollen Souveränität. Die immerwährende Neutralität ist, wie Verosta nachweist, der Abschluß einer politischen und völkerrechtlichen Entwicklung, die 1919 mit der österreichischen Quasineutralität begonnen hat

Verosta untersucht in seinem Gutachten jedoch keineswegs nur die österreichische Neutralität. Die verschiedenen Neutralitätsformen, die im skandinavischen Raum entwickelt wurden, und die immerwährende Neutralität der Schweiz, die im Moskauer Memorandum ausdrücklich als Vorbild für die österreichische Neutralität genannt wird, werden ebenfalls dargestellt. Neben diesen mehr historisch akzentuierten Abhandlungen nimmt die ausführliche Erläuterung der Rechte und Pflichten, die aus der dauernden Neutralität erfließen, einen breiten Raum ein. Viele Rechtspflichten sind für Österreich von besonderer politischer Brisanz. Was vom Standpunkt des Völkerrechtes aus über ein Arrangement mit der EWG gesagt wird, ist von großer Offenheit: „Die Lösung wird... weniger von völkerrechtlichen Argumentationen beeinflußt werden, sondern von der

Entscheidung der politischen Frage durch die zuständigen politischen Stellen, ob ein Naheverhältnis zur EWG die politische Unabhängigkeit und dauernde Neutralität der Republik Österreich und damit das politische Gleichgewicht in Europa stören wird, in dem die Unabhängigkeit und dauernde Neutralität Österreichs ein festes völkerrechtlich verankertes politisches Element bildet. Diese politische Prognose kann weder juristisch noch sonst .wissenschaftlich' gemacht werden.“ (S. 89 f.) Verosta erweist sich hier völlig frei von der Einseitigkeit einer gewissen juristischen Betrachtungsweise, die politische Probleme mühsam und verkrampft mit rechtlichen Kriterien zu lösen trachtet und mit diesen vergeblichen Versuchen, alles zu verrechtlichen, das Völkerrecht überfordert — und die dadurch der Idee und dem Anliegen des Völkerrechtes einen unheilvollen, wenn auch unbeabsichtigten Schaden zufügt.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung