Vom Tigerstaat zum Katzenjammer

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Das Wachstumswunder Hongkong erlebt derzeit einen jähen wirtschaftlichen Einbruch. Der Katzenjammer ist groß. Doch bei den mittelfristigen Prognosen dominiert gedämpfter Optimismus.

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Das Wachstumswunder Hongkong erlebt derzeit einen jähen wirtschaftlichen Einbruch. Der Katzenjammer ist groß. Doch bei den mittelfristigen Prognosen dominiert gedämpfter Optimismus.

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Schon der Anflug auf Hongkong kündet von neuen Zeiten. Vorbei sind die Tage, an denen die Jumbos knapp vor ihrer Landung die Fernsehantennen und Wäscheleinen an den Fenstern der Appartmenthäuser grüßten, um sich mit atemberaubender Prägnanz auf die kurze Piste des Flughafens Kai Tak im Osten der dichtbesiedelten Halbinsel Kowloon niederzulassen. Heute fliegt die Skyline von Hongkong Central nicht mehr am Fenster vorbei, ist aber dank eines effizienten Shuttle-Zuges nur 23 Minuten vom neuen Flughafen Chek Lap Kok auf Lantau Island entfernt.

Hongkong ist eine Metropole im steten Wandel. Die Rückkehr unter die Souveränität Chinas am 1. Juli 1997 ist bereits Geschichte. Die "Umstellung" erfolgte ohne größere Schwierigkeiten, und die hektische Pragmatik des freien Marktes läßt wenig Raum für weitläufige politische Reflexionen. Politik wird von den Hongkong-Chinesen meist in einem sehr engen Verwertungszusammenhang gesehen: "Was bringt sie mir in meiner aktuellen Situation?" Vor allem diese Frage beschäftigt die Menschen, wenn sie über Politik reden - oder eben über sie schimpfen. Denn der scharfe Wind des wirtschaftlichen Umbruchs macht auch vor den Toren der politischen Macht nicht halt. Der Unmut der Bevölkerung ist groß, und die Regierenden bekommen ihn zu spüren.

Die abrupte Wende Von der fast überheblichen Wachstumseuphorie vergangener Jahre ist in Hongkong nichts mehr übrig. Allzu jäh kam der Einbruch, und allzu heftig sind die Folgen. Ein Wachstum des Bruttoinlandsproduktes (BIP) von über fünf Prozent galt in den letzten zehn Jahren als Selbstverständlichkeit, das Vertrauen in die wirtschaftliche Zukunft war ungebrochen. "Die Krise überraschte Hongkong gleichsam über Nacht. Die Prognosen waren fast einheitlich positiv", berichtet Hermann Vallaster, Vizepräsident von "Hilti Asia" und zuständig für den Bereich "Human Resources". "Als im Juli 1997 der thailändische Baht ins Trudeln kam, läuteten zwar die Alarmglocken. Aber selbst zu diesem Zeitpunkt konnte oder wollte noch niemand daran denken, daß das Erdbeben bald die ganze Region erschüttern sollte", erinnert sich der derzeit in Hongkong ansässige Vorarlberger an den fast blinden Optimismus der Unternehmen und der Analytiker.

Die aktuellen Schätzungen schauen nicht rosig aus. Die Rezession hat ihre volle Schlagkraft entfaltet. Zuletzt wurde mit einem Schrumpfen des BIP um bis zu sechs Prozent gerechnet. Vergleicht man diese Prognosen mit den Zahlen für andere Länder in der Region, wie etwa Indonesien mit minus 15 Prozent, so nehmen sie sich recht passabel aus. Allerdings sind die Begleitumstände mehr als ungemütlich. Die Arbeitslosigkeit stieg mit fast fünf Prozent auf den höchsten Stand seit 15 Jahren, und die Einzelhandelsumsätze sinken zweistellig. Die Aktienkurse und Immobilienpreise haben sich seit Oktober 1997 etwa halbiert. Zwar gibt es vereinzelt Anzeichen einer Erholung, aber die Talsohle scheint noch keineswegs durchschritten zu sein.

Hongkongs Status als Finanzzentrum von Weltrang blieb unterdessen nicht ohne Schaden. Die Scheinwerfer der internationalen Finanzwelt richteten sich auf die Metropole Ende August, nachdem die Regierung durch große Aktienkäufe direkt im Börsenmarkt interveniert hatte. Alan Greenspan, der Vorsitzende der US-Federal Reserve, quittierte das Manöver harsch mit einem unmißverständlichen Urteil über die (ehemalige?) Bastion des freien Marktes: "Hongkong hat seine ausgezeichnete Glaubwürdigkeit verspielt!" Die Regierung rechtfertigte die Intervention damit, daß außergewöhnliche Zeiten eben außergewöhnliche Maßnahmen verlangten. Das internationale politische Echo blieb eher diffus. Hongkongs Bemühungen um eine Aufrechterhaltung der Bindung des Hongkong-Dollars an den US-Dollar wurden gewürdigt. So ließ etwa Alan Paul, der britische Delegationsführer bei der Zusammenkunft von China und Großbritannien zur Überwachung des Sino-Britischen Abkommens über die Rückführung Hongkongs, mit einem überraschenden Statement aufhorchen - die britische Regierung verstehe, warum Hongkong die schwierige Entscheidung zugunsten einer Intervention am Aktienmarkt vorgenommen habe: "Wir haben Verständnis für die Sorgen Hongkongs hinsichtlich der verzerrenden und destabilisierenden Effekte von großen, ungezügelten Kapitalflüssen auf die Finanzmärkte", hieß es.

Freier Markt ade?

Der internationale Zug in Richtung Deregulierung scheint jedenfalls an Geschwindigkeit verloren zu haben, wenn nicht gar entgleist zu sein. Interventionistische Praktiken anderer Staaten, wie etwa Kapitalverkehrskontrollen in Malaysien oder die Begleiterscheinungen der russischen Finanzkrise, verteilen die Kritik der internationalen Finanzwelt auf mehrere Schultern. Das internationale (Spekulations-)Kapital sitzt vielerorts auf der Anklagebank und mit ihm das Prinzip des uneingeschränkten bzw. hemmungslosen Marktes. Daß allerdings im Zusammenhang mit Kapitalismuskritik ausgerechnet Hongkong genannt werden muß, ist wohl als Ironie der Geschichte zu werten. Und die Ironie verschärft sich, indem Hongkong zur Stützung seiner Währung und zur Wiederbelebung der wirtschaftlichen Agenden auf den Motor China baut.

China als Motor?

Aber auch Festland-China zeigt sich nicht immun gegen die Krise in zahlreichen Nachbarländern. Der Einbruch in wichtigen Absatzmärkten streut Sand in den Konjunkturmotor, die Sanierung der Staatsbetriebe erweist sich als immens aufwendig und die tragische Jangtse-Flutkatastrophe des Sommers bescherte zusätzliche Belastungen. Dennoch hat der chinesische Yuan bisher jedem Abwertungsdruck stand gehalten, und die Pekinger Regierung zeigt sich fest entschlossen, ihre Wachstumsziele zu erreichen. "China Daily", Chinas größte englischsprachige Tageszeitung, zitiert Zeng Peiyan, den Minister der staatlichen Kommission für Entwicklungsplanung, der sich mit mit nachhaltiger Bestimmtheit äußerte: "Die von der Regierung zu Jahresbeginn (1998, Anm.) ausgewiesenen Ziele - acht Prozent BIP-Wachstum und eine Inflation von weniger als drei Prozent - können erreicht werden." Zugleich wies er sämtliche Abwertungsgerüchte zurück: "Eine Abwertung des Yuan würde zu einer neuen Abwertungsrunde bei unseren Nachbarländern führen, was auch Hongkongs Bemühungen um die Erhaltung der Bindung an den US-Dollar schaden würde."

Die chinesische Standhaftigkeit brachte zwar internationales Lob, aber gleichzeitig den zynischen Kommentar, daß Peking sich mit der künstlichen Aufrechterhaltung der Paritäten als wirtschaftliche Großmacht profilieren wolle, ohne die notwendigen Fundamente dafür zu haben.

Hongkongs Unternehmen geben sich jedenfalls optimistisch. In den im Herbst 1998 publizierten Halbjahresbilanzen finden sich unter der Rubrik "prospects" durchwegs hoffnungsvolle Töne. Interne Kostenkontrollen und Rationalisierungen, Produktivitätssteigerungen und vorsichtiges Geld- und Risiko-Management werden als Rezepte für einen Aufschwung gehandelt. Und dank des chinesischen Mutterlandes als Konjunkturlokomotive will die Sonderverwaltungszone unter den ersten sein, welche die asiatische Abwärtsspirale gestärkt verlassen.

Starke Vernetzungen Hermann Vallaster faßt die allgemeine Stimmung zusammen: "Bei Zeitprognosen geben sich alle betont unverbindlich. Aber Hongkong hat sicherlich gute Voraussetzungen, die Depression eher rasch zu meistern. Die großen Währungsreserven, das nach wie vor hohe Commitment für einen freien Markt und die guten Verbindungen mit China werden dabei sehr hilfreich sein. Trotzdem wird es sicherlich zwei bis drei Jahren dauern. Zudem gibt es viele offene Fragen, etwa ob sich der Yuan halten kann oder wie es in anderen Ländern weitergeht. Die Vernetzungen sind hier sehr groß."

Das ungebrochene Asien-Engagement seines Unternehmens beurteilt Vallaster positiv: "Hongkong ist und bleibt das Nervenzentrum in Asien. Von hier aus koordinieren wir 13 Marktorganisationen. Anders als etwa viele amerikanische Unternehmen, die kurzfristig Cash-flow generieren wollen, ist unser Interesse an Asien ein strategisch langfristiges. Dabei gilt es, sich dem Umfeld anzupassen. Daß es nicht immer ein Zuckerlecken sein wird, wissen wir nicht erst seit dieser Krise."

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