Von Recht und Macht, Wort & Tat

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Zwei prägende, durchaus konträre deutsche Christdemokraten haben kürzlich ihren 85. Geburtstag gefeiert: Helmut Kohl und Heiner Geißler.

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Zwei prägende, durchaus konträre deutsche Christdemokraten haben kürzlich ihren 85. Geburtstag gefeiert: Helmut Kohl und Heiner Geißler.

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"Heiner, sonst keiner; Heiner, sonst keiner" skandierte die Junge Union immer wieder vor der Halle, in der die CDU im September 1989 in Bremen ihren 37. Bundesparteitag veranstaltete. Völlig ohne Erfolg. Gegen den lauten Protest der Parteijugend draußen und jenen leisen rund eines Viertels der Delegierten drinnen ersetzte der Vorsitzende der CDU seit 1973, Helmut Kohl, deren Generalsekretär seit 1977, Heiner Geißler.

Damit vollzog Kohl, was er Monate zuvor den Gremien und Medien avisiert hatte - und von Geißler ignoriert worden war. Kohl war nie nur ein Mann des Worts, sondern auch der Tat. Ein Vorhaben zu realisieren war ihm wichtig. Er übersetzte es mit Loyalität. Loyal war er jeweils zu sich selbst und seinem Gegenüber. Hielt Letzteres nicht das eigene und Kohls (hin)gegebenes Wort, kam es zur (weg)nehmenden Tat. Zwei offensichtlich nicht versöhnliche Prinzipien waren somit aufeinandergestoßen: Was für den einen, Kohl, letzte Loyalität zur Person hieß, bedeutete für den anderen, Geißler, erste Loyalität zur Sache.

In seinen Memoiren spricht Kohl immer wieder davon, dass er von jenen, die ihm den größten Dank geschuldet hätten, unter einem Hinweis auf Treue zur Sache am meisten hintergangen worden sei. Geißlers konsequente Entfernung aus Amt und Würde stellte dabei eine (im Wortsinn) Ur-Sache für folgende (im übertragenen Sinn) Prozesse dar. In variabler Intensität betrafen sie vor allem Lothar Späth, Rita Süssmuth und Norbert Blüm ebenso wie Richard von Weizsäcker, Wolfgang Schäuble und Angela Merkel.

Adenauers "Enkel"

Sie alle hatten, in Kohls Augen und Ohren, verraten, was er vom genannten Prinzip her Treue nannte. Darauf gründete sein berühmtes, weniger sachliches denn personales System. Manche bezeichneten es als "berüchtigt". Geradezu "Nibelungen"-treu blieb der rheinische Pfälzer diesem System - und, nachdem es schon Brüche zeigte, immerhin noch sich selbst: über das Jahr 2000 und den Spendenskandal, mit dem er durch sein Verschweigen der Gelbgeber die CDU fast in den Abgrund riss, hinaus bis heute, da ihm Wort und Tat tragischerweise nur noch bedingt zueigen sind und die Welten der Politik inzwischen wohl fremd.

Was war im Vorfeld des Bundesparteitags so Einschneidendes geschehen? Seit Längerem litt die CDU unter schlechten Umfragen. Eine absolute Mehrheit zu erreichen (was einst Konrad Adenauer, als dessen "Enkel" sich Kohl verstand, wider Erwarten geschafft hatte) war für die stolze Partei unmöglich. Hatte Kohl sie seit Beginn der 1970er-Jahre, eben mit Geißler, zu einer Programmpartei der politischen Mitte mit Ecken und Kanten nach rechts und links geformt, so war sie aus der Sicht seiner Gegner Ende der 1980er-Jahre wieder geworden, was Adenauer in den Untergang getrieben hatte: ein Kanzlerwahlverein ohne Profil. Eine Christdemokratie, die wie in Frankreich, Italien oder Österreich entweder untergegangen, im Untergehen oder im Verblassen begriffen war.

Das Recht zu neuem Licht, ja, Glanz nahmen jene gern für sich in Anspruch, die nach mehr Macht strebten. Zu lange waren sie vielleicht im Schatten des Lichts gestanden. Bildhaft: Ehe die "Birne" ausging, wollten sie sie ersetzen. Das Recht zum Wort glaubten sie, zuvorderst Geißler, Süssmuth und Späth, zwar auf ihrer Seite. Worüber sie aber nicht verfügten, war die Macht zur Tat. "Dilettantisch" seien sie vorgegangen, sagt die Zweite heute darüber. "Feigheit" nennt der Erste das Zurückziehen des Dritten ganz knapp vor dem Tag der Entscheidung. Der "Putsch", wie Kohl das Geschehen nach wie vor bezeichnet, brach zusammen, ehe seine Protagonisten überhaupt Flagge zeigen, geschweige denn hissen konnten.

Ironie des Schicksals: Was ihm seine Rivalen absprachen, nämlich ein Thema für die Zukunft zu haben, fiel Kohl dann gleich in den Schoß. Die Berliner Mauer zerbarst, und er, typisch für seine Politik, gleichermaßen begeistert und beseelt, nahm sich des Kairos mit Hirn und Herz an. Was wir als das Europa von heute erachten, ist in vieler Hinsicht zweifellos sein Verdienst. Als einer der Väter einer weiten und nicht engen Union wirkte der Historiker historisch. Auf sehr wenige trifft solches weltweit zu.

Was bleibt aber von Geißler? Von Reue und Milde ihm gegenüber hatte Kohl noch in Bremen gesprochen. Doch schon einen Monat nach dem delegierten Applaus hielt er weder das eine noch das andere: Sich beheimatete er auf der Weltbühne, Geißler exilierte er in den Bundestag. Mehr denn je wurde Kohl so ein Politiker der Macht und Tat. Womit sich Geißler begnügte, waren Recht und Wort.

Schon in der 1970er-Jahren hatte er die CDU, übrigens gegen immense Widerstände, für das Thema Frauen geöffnet. Nun konzentrierte sich der ehemalige Jesuiten- Zögling immer mehr auf die Themen Ökologie und Soziales. Den Gipfel des für seine Skeptiker Erträglichen erreichte der Bergsteiger schließlich, als er nach 2000 Mitglied bei ATTAC wurde und das als weitere Bühne nutzte.

Intellektuelle Qualität der Politik

Geißlers gefährlichste Waffe blieb sein geschliffenes Wort. Das Recht, dieses einzusetzen, nahm er sich schriftlich und mündlich, manchmal wohl zu viel und zu oft. Schriftlich in Aufsätzen und Büchern, worin er wie in "Das nicht gehaltene Versprechen" frühzeitig falsche "Politik im Namen Gottes" anprangert, oder wie in "Zeit, das Visier zu öffnen" die wahren Gründe für Kohls Abwahl 1998 darlegt. Mündlich in Vorträgen und Talkshows, in denen er nicht müde wurde, seinerseits Teilhabe am großen Ganzen zu üben.

Tatsächlich nachhaltig ist Geißler wohl in zweierlei Hinsicht: einerseits direkt in der mit ihm in engem Kontext stehenden intellektuellen Qualität von Politik, wie sie in Deutschland im Gegensatz zu seinen Nachbarn in parlamentarischen Debatten oder programmatischen Papieren bis heute üblich ist, und die die deutsche Christdemokratie zur in Wort und Tat führenden in ganz Europa gemacht hat. Zum anderen indirekt in jener weiblichen Generation, auf deren Förderung er keinen politischen Einfluss mehr ausübt und die Angela Merkel nachfolgt.

In erster Line: Julia Klöckner, die sich als Vizechefin der Bundes-CDU zielstrebig anschickt, zunächst Ministerpräsidentin gerade in jenem Bundesland zu werden, wo einst Helmut Kohl und Heiner Geißler zusammen zur Reform von Partei und Staat antraten. Zum Jubiläumslandesparteitag der CDU-Rheinland-Pfalz erschienen beide, Kohl wie Geißler, als Ehrengäste. Allerdings war der Zweite längst wieder weg, als der Erste kam. Kein Wort über die Tat, keine Tat über das Wort. Keine Sühne vor sich, keine Versöhnung zweier Christen in der Demokratie. Wie schade! Im reifen Alter hätten sie dazu jedes Recht gehabt, jede Macht.

Gestaltet haben sie, Gestalten sind sie: Am 3. März hat der andere, am 3. April der eine seinen 85. Geburtstag begangen.

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