Voreiliger Abgesang auf die Volksparteien

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Die westlichen Wohlstandsgesellschaften hätten Anspruchsdenken hervorgebracht. Daher, so meint der Politologe Franz Walter, entferne sich der Bürger von der Politik.

Die großen Volksparteien in Europa sind unter Druck geraten: Auf der einen Seite durch neue soziale Bewegungen, die Zivilgesellschaft und die Entstehung der Grünen, auf der anderen Seite durch Rechtspopulismus und dessen Schwarz-Weiß Appelle an die Ressentiments der Bürger. Zudem sind die westlichen Gesellschaften heterogener und vielschichtiger geworden: Mehr Singles, mehr Migranten, mehr Scheidungen, mehr Arbeitslose, mehr Individualisierung, weniger Vertrauen in Institutionen und weniger Solidarität. In Österreich haben die Volksparteien SPÖ und ÖVP in den letzten dreißig Jahren fast 40 Prozent ihrer Wähler an die neuen Mitbewerber verloren. Der deutsche Politologe Franz Walter sucht in zwei aktuellen Büchern nach Gründen und Erklärungen für den schleichenden Erosionsprozess der christdemokratischen und sozialdemokratischen Traditionsparteien.

Für ihn befindet sich das Volk nach einer Periode der Politikverdrossenheit bereits in einer Phase der Gleichgültigkeit gegenüber der Politik. Sinkende Wahlbeteiligung deute zunehmend auf Apathie des Elektorats hin. Die beiden Bücher durchzieht Walters Hauptthese, wonach das Zeitalter der Volksparteien unwiederbringlich zu Ende gehe. Die Befunde, die Walter zur Untermauerung seiner Thesen vorlegt, gründen vor allem auf der zunehmenden Heterogenität der westlichen Demokratien. Die früher starken gewerkschaftlichen bzw. christlichen Milieus von Christ- und Sozialdemokratie seien quantitativ und qualitativ erodiert. Bis in die Sechzigerjahre hätten diese Milieus die Heimatwelten im Vor- und Umfeld der Parteien gebildet. Dort habe die kulturelle Verarbeitung ökonomischer, sozialer und politischer Konflikte stattgefunden; Parteien haben von dort kräftige lebensweltliche Wurzeln und Ideen bekommen und ihre Alltagsrituale und Symbole entwickelt. Die klassischen Milieus haben emotionalen Zusammenhalt und Gruppenzugehörigkeit vermittelt. Diese Milieus sind heute erodiert; damit hätten die Volksparteien zwangsläufig ihre Leitziele und historischen Subjekte verloren. Der Kern der politischen Überzeugungen – Sozialismus und Wirtschaftsdemokratie bei der Sozialdemokratie, Religion, Nation und Antikommunismus bei der Christdemokratie – habe sich damit erledigt und trivialisiert, ja sei sogar nachhaltig diskreditiert worden.

Sozialdemokratie ohne Arbeiter

Zur empirischen Untermauerung nennt Walter einige Entwicklungen innerhalb der deutschen Sozialdemokratie: Dort ist inzwischen fast die Hälfte der Mitglieder über 60 Jahre alt. Nicht einmal mehr jeder zehnte Sozialdemokrat ist jünger als 36. Und was die Sozialdemokratie besonders schmerzen sollte: Der Anteil der Arbeiter innerhalb der Partei liegt nur noch bei elf Prozent. Der typische Funktionär der SPD ist heute Bildungsaufsteiger und hat studiert; die untersten 35 Prozent der Gesellschaft, Erwerbslose, AlleinerzieherInnen, aber auch Handwerker und Vertreter von Einpersonenunternehmen oder Klein- und Mittelbetrieben tauchen in den Parlamenten und im Personalstand der Parteien nicht mehr auf.

Auch die Entwicklung der Christdemokratie beschreibt Walter in düsteren Farben. Die bürgerlichen Lebenswelten hätten sich weit von den überkommenen christlichen Moralvorstellungen entfernt. Das Bürgertum sei hedonistisch und ich-zentriert, Engagement für die Gemeinschaft sowie der Anteil von Kirchengebundenen und Kirchennahen erdrutschartig zurückgegangen. Damit sind die traditionellen Inspirationsquellen der Volksparteien versiegt und neues bislang nicht nachgewachsen. Mit gravierenden Folgen für die Parteien: Ihre Anhängerschaft zerfällt heute in schwer kompatible Kulturen, Orientierungen und Einstellungen, was zu einer schleichenden Desintegration und wachsenden Labilität der Parteien geführt habe. Nachdem die Parteien heute keine gesellschaftliche Vermittlerrolle mehr spielen, beschränke sich ihre wesentliche Aufgabe auf die Auswahl des Personals für Parlamente und Regierungen. Parteien entwickeln sich damit zu Kaderorganisationen ohne substanzielle Kader. Der neuen Politikergeneration fehle es an Kreativität und programmatischen Ideen; sie scheitern für Walter daran, für den Wähler und innerhalb der Parteien Identifikation zu schaffen und langfristige Bindungen herzustellen. Zum Schluss wird Walter fatalistisch: Seit 30 Jahren sei aus den Parteidiskussionen keine originelle Idee (ist Walter die Einführung von Euro, EU-Erweiterung u.v.m. entgangen?) mehr hervorgegangen.

Politik ist auch eine Holschuld

Hinter diesem Fatalismus versteckt sich bei Walter wohl eine falsche Erwartungshaltung an Politik; Walter wünscht sich von Parteien und Politikern konkrete Versprechen, verbindliche Ansagen, Visionen und weniger Tagesgeschäft, kurz: er sieht Politik als multiple Wunscherfüllungsmaschine. Und speziell in dieser unrealistischen Erwartungshaltung liegt das zentrale Problem der regierenden Volksparteien.

Politik ist die Kunst des Machbaren, und der budgetäre Spielraum ist gering. Das zentrale Problem liegt weniger bei der Politik, sondern bei den explodierenden Grundkosten für den Sozialstaat. Die Erwartungshaltungen an Staat und Politik sind durch den Wohlfahrtsstaat gewachsen. Es waren Politiker wie Bruno Kreisky, die Politik mit der Erfüllung materieller Wünsche gleichsetzten. Dieses lähmende Anspruchsdenken ist bis heute nicht überwunden. Nicht die Parteien und die Politiker sind also „schuld“, sondern auch die Wählerinnen und Wähler. Das Bewusstsein, dass jeder Bürger dem Gemeinwohl dienen sollte, ist weitgehend verloren gegangen. Wer solche Wahrheiten ausspricht und Reformen einmahnt, wird in der Regel abgewählt. Das Umdenken, das Walter fordert, darf also nicht alleine an Parteien delegiert werden, sondern sollte auch vom Bürger ausgehen. Schließlich ist politische Partizipation nicht nur eine Bring-, sondern auch eine Holschuld.

Im Herbst der Volksparteien?

Eine kleine Geschichte von Aufstieg und Rückgang politischer Massenintegration.

Von Franz Walter, Transcript 2009

132 S., Kar. e 15,30

Baustelle Deutschland

Politik ohne Lagerbindung.

Von Franz Walter, Suhrkamp 2009

256 S., Kar. e 10,30

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