Was die Welt zusammenhält

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Michael Ley begibt sich auf die Suche nach der "europäischen Seele" und der Zivilreligion.

Was hält die modernen Gesellschaften, was hält die Europäische Union zusammen? Diese Frage steht im Mittelpunkt von Michael Leys Studie über den Nationalismus, die Suche nach neuen Identitäten in Europa und die Zivilreligion.

Ley beginnt chronologisch mit dem Nationalismus, der Nationalitätenfrage und den Lösungsversuchen in der Donaumonarchie. Schon früh wurde Intellektuellen wie Karl Renner klar, dass der Nationalstaat nicht nationale Konflikte löse, sondern diese erzeuge und verschärfe. Denn diese Konflikte schlichtet er "nicht auf dem Wege des Rechtes, sondern entscheidet sie auf dem Wege der Gewalt." Nationalismen sind prämodern, denn sie tendieren dazu, die Trennung von Politik und Religion aufzuheben. In der "Resakralisierung der Politik" oder der "Politisierung der Religion" werde die Moderne zurückgenommen.

Ausgediente Religionen

Ähnlich verhielt es sich nach Ley mit den modernen Ideologien und Totalitarismen wie Nationalsozialismus oder Marxismus-Leninismus. "Sie sind neuzeitliche Glaubensgemeinschaften, die sich auserkoren wähnen, die bedrohte Schöpfung zu retten und sie zu ihrem sakralen Endziel zu führen." Diese Ersatzreligionen oder politische Religionen haben seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges und des Kommunismus ausgedient. Moderne Gesellschaften werden immer inhomogener, die (Hoch)kultur, einst Vehikel und Medium des Nationalismus, entzieht sich der Kontrolle durch den Staat und verfällt der Beliebigkeit.

Was kann das entstandene Vakuum füllen? Ley diagnostiziert in diesem Zusammenhang - und im Gegensatz zu gängigen Thesen - eine überraschende Kontinuität religiöser Ressourcen trotz Säkularisierung der Gesellschaften.

Das Vakuum soll nach Ley die Zivilreligion füllen, die mehrere Aufgaben übernimmt. Sie kann in religiös pluralistischen Gesellschaften "zur Aufrechterhaltung eines gemeinsamen Ethos und zur Schaffung des Gefühls der Zusammengehörigkeit beitragen. In der Zivilreligion formuliert die Zivilgesellschaft ihren Sinnhorizont und ihren normativen Kern." Sie soll zur "Zivilisierung" der verschiedenen Religionen beitragen und ergänzt die Institutionen des Staates und der Religionen. "Zivilreligion kann als eine Instanz interpretiert werden, die das Vakuum zwischen Politik und traditioneller Religion füllt."

Leys Studie ist in mehreren Punkten angreifbar. Zunächst bleibt der Begriff der Zivilreligion selbst recht unklar - und mit ihm auch Begriffe wie "Zivilisierung" oder "Zivilisation", etwa in der Wendung, die Zivilreligion könne einen Beitrag zur "Zivilisierung der Zivilisationen" leisten.

Der Grund dieser Unschärfe liegt wohl darin, dass die Begriffsgeschichte zu kurz kommt. Der Begründer des Konstruktes einer Zivilreligion ist nicht, wie Ley vermutet, Robert Bellah ("Civil Religion in America", 1967), sondern Rousseau mit dem "Contrat Social" (1762). Der Begriff der religion civile steht im engen Zusammenhang mit jenem der "politischen Tugend" bzw. der civic virtue - ein Diskurs, den Pocock bis auf Machiavellis "Discorsi" zurückgeführt hat. So bleibt unklar, was Zivilreligion von Ethos, Tugend, Werten oder gemeinsamen moralischen Überzeugungen unterscheidet.

Synthese Religion-Politik

Ein Blick in den "Contrat Social" zeigt uns auch die Gefahren des Konstrukts "Zivilreligion". Denn Rousseau konzipiert diese als Konkurrenzunternehmen zum (vor allem katholischen) Christentum und sehnt sich nach der römischen Synthese von Religion und Politik, von "Kirche" und Staat. Diese Staatsreligion mag das Gemeinwesen gegen äußere Feinde stärken, was Rousseau erwartet - aber leider trägt sie immer auch den Keim des Totalitarismus in sich. Auch das dokumentieren Rousseaus Schriften. Die Zivilreligion ist also nicht unbedingt notwendig, sie könnte gerade jene Not erzeugen, die sie zu beseitigen vorgibt.

Es mag schon sein, dass die Europäische Union eine Patientin ist, die eine Medizin braucht. Wir sollten ihr aber auf keinen Fall Gift verschreiben.

Donau-Monarchie und europäische Zivilisation

Über die Notwendigkeit einer Zivilreligion

Von Michael Ley

Passagen Verlag, Wien 2004

135 Seiten, brosch., e 16,50

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